piwik no script img

Dawn DIE ANDEREN

Die pakistanische Zeitung zum

Religionsstreit in Indien

Die indische Demokratie steht wie nie zuvor im Rampenlicht. Und dies nicht nur wegen dem Stoß, den V.P.Singhs Koalitionsregierung durch den Rückzug der BJP erlitten hat. In einem parlamentarischen System ist Zahlenarithmetik natürlich sehr wichtig, und völlig klar ist es auch, daß die seit 11 Monaten regierende Minderheitskoalition ohne die Unterstützung der 86 BJP-Abgeordneten nicht im Amt bleiben kann. Doch geht es hier um mehr als um das politische Überleben einer Regierung. Die Grundproblematik, über die sich Singh und die rechtsgerichtete BJP zerstritten haben, birgt schwerwiegende Folgen für Indien. Als die beiden Gruppen nach den Wahlen im vergangenen Jahr einen Pakt eingingen, wurden sie aufgrund der Gegensätzlichkeit ihrer Einschätzung fundamentaler Fragen der indischen Gesellschaft als unvereinbare Partner angesehen. Eine hatte offen fundamentalistische Orientierungen, während die andere sich auf eine säkularistische Philosophie berief. Daß ein solch ernster Konflikt — ob der Ramjanambhoomi-Tempel auf dem Gelände der Babri-Masjid- Moschee in Ayodhya gebaut werden sollte — weniger als ein Jahr nach der Schließung dieses Zweckbündnisses auftauchen sollte, ist keineswegs überraschend.

Das Tempelproblem hatte bereits vor den Wahlen im vergangenen Jahr zu beispiellosen Auseinandersetzungen geführt und viele Menschenleben gefordert. Bemerkenswert ist, daß die BJP, besonders ihr streng obskurantistischer Flügel VHP, die Pläne zum Tempelbau in Ayodhya nie fallengelassen hatte. Daher der 1500-Meilen-Treck des BJP-Präsidenten Advani als Anführer einer zeremoniellen Prozession. Diese sollte Ayodhya am 30. Oktober erreichen, dem Startbeginn des Tempelbaus. Die Verhaftung Advanis eine Woche bevor er sein Ziel erreichte, die Abriegelung Ayodhyas und die physische Verhinderung der Bautätigkeit durch V.P.Singh hat diesem die Glaubwürdigkeit wiedergegeben, die manche nach seiner Verbindung mit einem fundamentalistischen Koalitionspartner angezweifelt hatten.

Kurzfristig hat V.P.Singh sein politisches Schicksal auf sicherere Füße gestellt. Es ist völlig unklar, ob er nächste Woche die Vertrauensfrage überstehen wird. Doch sind die großen Parteien auf Neuwahlen zum jetzigen Zeipunkt unvorbereitet. So wird die politische Neuorientieurng, die Indien notwendigerweise durchführen muß, möglicherweise dazu führen, daß die Parteien ihre Politik gegenüber dem Säkularismus neu definieren müssen. Indien, mit einer multireligösen und multikulturellen Bevölkerung kann sich gegenüber seinen Minderheiten eine hindu-fundamentalistische Politik schlecht leisten. Es ist unbestreitbar, daß es mächtige fundamentalistische und obskurantistische Strömungen gibt, welche das Verhalten großer Teile der indischen Bevölkerung und öffentlichen Meinung charakterisieren. Aber die darin enthaltenen Gefahren können nur dann neutralisiert werden, wenn die amtierende Regierung das Problem mit politischer Integrität und einer genuin säkularistischen Haltung angeht. Wenn V.P.Singhs Schicksal dazu führt, daß Indiens politische Führungsschicht über die Frage des Säkularismus nachdenkt, wird Indiens langfristiges Einheitsinteresse und demokratisches politisches System daraus einen Gewinn ziehen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen