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Macht des Worts Ilija Trojanow beschreibt die Erfahrungen Geflüchteter. David Foenkinos macht sich über das Verlagswesen lustigDass die Fremden nicht mehr von uns zu unterscheiden sind

In Filmen gilt oft als Happy End, wenn sich zwei gefunden haben. Das Leben, das sie von nun an zusammen führen werden, mit allen Widrigkeiten des Alltags, bleibt uns verborgen. Ähnlich ist es mit Erzählungen von Flucht. Thematisiert werden Fluchtgründe, Vorbereitungen auf die Flucht und, spannungsgeladen zum Mitfiebern, die Erlebnisse auf der Flucht: „Werden sie es schaffen?“ Ilija Trojanow ist 1971 als Sechsjähriger mit seinen Eltern aus Bulgarien nach Deutschland geflohen und reflektiert das Leben und Erleben „Nach der Flucht“.

Er verzichtet dabei auf eine stringente Erzählung seiner eigenen Erfahrungen, sondern vermengt diese mit den Erfahrungen anderer Geflüchteter. In 198 Miniaturen – viele Texte sind nur ein paar Sätze lang – und aufgeteilt in zwei Kapitel, „Von den Verstörungen“ und „Von den Errettungen“ betitelt, stellt der 51-Jährige allgemeingültige Überlegungen zum Thema an: „Es ist nicht vorgesehen, dass die Fremden nicht mehr von uns zu unterscheiden sind.“ Autobiografisch sind laut eigener Aussage „höchstens zehn“ der Texte, selbst die hat Trojanow in der dritten Person verfasst, um ihre Allgemeingültigkeit zu betonen.

Er beschreibt, wie eine Lehrerin sich weigern wollte, ihn in ihre Klasse aufzunehmen. „Die Treppe hat beim Herabsteigen mehr Stufen“ ist eine der wenigen direkten persönlichen Bemerkungen, die Einblick in die Gefühlswelt des geflüchteten Kindes gewährt – und die umso bezeichnender ist, als sie nach über 40 Jahren noch präsent ist. Der Schriftsteller, Übersetzer und taz-Autor Trojanow ist ein Mann des Wortes, entsprechend viel Raum nehmen Verweise darauf ein, wie wichtig Sprache ist, um sich in seiner Umgebung zu verankern: „Sprache ist Ermächtigung. Wer das Alphabet beherrscht, kann sich selbst verteidigen.“ Ein Umstand, den auch jeder kennt, der schon einmal längere Zeit aus freien Stücken in einem anderen Sprachraum verbracht hat.

Seine überaus facettenreichen Reflexionen liest der Autor ruhig, stellenweise ironisch und bisweilen sehr pastoral – und regt zum Nachdenken über die eigene Herangehensweise an das Thema an.

Ohne jeden Tiefgang hingegen vertreibt einem der französische Autor David Foenkinos mit „Das geheime Leben des Monsieur Pick“ die Zeit. Besagter Herr Pick war ein Pizzabäcker in einem abgelegenen Ort in der Bretagne, der zeit seines Lebens nichts weiter schrieb als Einkaufszettel – so dachten alle, die ihn kannten. Denn eines Tages entdeckt eine ehrgeizige Lektorin in der örtlichen Bibliothek, die auch Hort für abgelehnte Manuskripte ist, einen fulminanten, aber nie veröffentlichten Liebesroman – aus der Feder Monsieur Picks. Nicht zuletzt wegen der sensationellen Entstehungsgeschichte wird der Roman zum Bestseller.

Der einzige Zweifler

„Wer das Alphabet beherrscht, kann sich selbst verteidigen“, sagt Trojanow

Seine Ehefrau bezweifelt Picks Autorenschaft und verweigert sich den Vermarktungsmechanismen der Verlagswelt, sie will weiterleben wie bisher. Dass das unmöglich ist, ist klar, aber auch gut, denn durch die Ereignisse, die der Erfolg des Romans nach sich zieht, wird ihr eingefahrenes Leben – wie auch das der Tochter und der Bibliothekarin – aufgerüttelt. Sogar der einzige Zweifler, ein in Ungnade gefallener Literaturkritiker, findet bei seinen Recherchen zwar nicht die Wahrheit, aber sein persönliches Glück. Axel Milberg liest den Roman nonchalant und nimmt den leicht nachlässigen Ton des Romans auf. Damit aber baut er eine Distanz zum Text auf und vermag nicht zu verhindern, dass man sich an vielen Stellen an Allgemeinplätzen und schablonenhaften Charakteren stört.

Zum Schmunzeln animiert die respektlose Zeichnung des berechenbaren französischen Verlagswesens und seines eit­len Klüngels – reale Ereignisse werden den 42-jährigen Prix-Goncourt-Gewinner inspiriert haben. Wahrscheinlich ist es das und die Neugier, ob Monsieur Pick tatsächlich der Verfasser von „Die letzten Stunden einer großen Liebe“ ist, die in den Bann ziehen. Und, konstruierte Story hin oder her, die Auflösung überrascht, zumindest, wenn man keine gewiefte Krimi­kennerin ist. SYLVIA PRAHL

Ilija Trojanow: „Nach der Flucht“. Argon Verlag, 2017. Ungekürzte Autorenlesung, 2 CDs, 125 Min.

David Foenkinos: „Das geheime Leben des Monsieur Pick“. Der Hörverlag, 2017. Vollständige Lesung, 6 CDs, 7 Std., 14 Min.

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