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Das überdimensionale Fragezeichen

Josef Bierbichler und Heiner Goebbels remixen Hanns Eisler am Berliner Ensemble

Hanns Eisler ist das gute Gewissen der deutschen Musik. Noch jeder Komponist, der sich vom Verdacht introvertierter Ästhetizismen befreien wollte, konnte die gesellschaftspolitische Relevanz seiner eigenen Musik mit einem Verweis auf Eisler bekräftigen. Auch ein politisch integrer Musiker wie Heiner Goebbels kann sich dieser Autorität nicht entziehen.

Seit 1998 ist das Ensemble Modern mit Goebbels’ Stück „Eislermaterial“ sporadisch an deutschen Theatern zu erleben, am Sonntagabend nun erstmals auf der Bühne des Berliner Ensembles. Wer eine kritische Auseinandersetzung mit dem Meister der funktionalisierten Musik erwartet hatte, wurde enttäuscht. Goebbels erkennt in Eislers Erbe mehr ein überdimensionales Fragezeichen, dem er mit verschiedenen Anworten entgegentritt. Eine kritische Bestandsaufnahme blieb also aus.

Man wurde am Anfang glatt etwas ungeduldig. Die ersten Minuten vermittelten das Gefühl, Goebbels hätte kaum mehr als ein fahles Eisler-Potpourri auf die Beine gestellt. Die Musiker verblassten am Bühnenrand, und auch der Schauspieler Josef Bierbichler glänzte durch körperliche Unauffälligkeit: nach vorne gebeugt, Ellenbogen auf den Knien, eine Hand umklammerte die Brille, während die andere zwischen einem Haufen Kopien wuselte. Dann allerdings trug er souverän und mit brüchiger Kopfstimme „Und ich werde nicht mehr sehen“ vor.

Erst nach und nach entwickelte Goebbels die möglichen Varianten einer zeitgenössischen Eisler-Lektüre. Eine O-Ton-Collage unterbricht die Musik, eine elektronische Passage zersetzt den dramaturgischen Fluss, oder ein kleines Ensemble bildet sich, das Eisler in wilden Jazzpassagen knetet.

Die Entscheidung, dieses handlungsarme Stück, das sich in ein paar Auf- und Abgängen erschöpft, unbedingt auf einer Theaterbühne anzusiedeln und es nicht auf das Podium eines Konzertsaals zu katapultieren, wird erst im Verlauf des Abends verständlich. Goebbels spielt die theatralischen Qualitäten einer altmodischen Nummernästhetik Gewinn bringend aus: Die Musik wird einziger Darsteller des Stückes; ein Musik-Stück, das als Bühnen-Stück „gespielt“ wird.

Es ist Eisler, der hier spricht und vor dem sich Goebbels in tiefer Verehrung verneigt.

Björn Gottstein

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