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Das schwere Leben, selber Chef zu sein

■ Seit 1984, als das Bremer Voith-Werk geschlossen wurde, führen die Beschäftigten ihren Betrieb als AN-Maschinenbau- und Umweltschutzanlagen GmbH in Selbstverwaltung weiter / Wie sich Menschen und Träume verändert haben, beschreibt der Anfang des Jahres ausgeschiedene Geschäftsführer Heinz Bollweg

Was haben die Arbeiter bei AN gelernt, hat sich da ein neuer Arbeitertyp entwickelt?

Wir haben angefangen mit 50 der vormals 170 Beschäftigten bei Voith, die sich aus drei Gruppen zusammengesetzt haben. Zum einen aus enttäuschten Mitarbeitern von Voith, die aber gleichzeitig motiviert und engagiert waren, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, und bei denen sich auch Facharbeiter mit guten Qualifikationen befunden haben. Dann Leuten, die einen sehr konservativen Hintergrund hatten, weil sie so nicht gezwungen waren, einen anderen Weg zur Arbeit zu nehmen und in einer anderen, fremden Umgebung zu arbeiten. Die dritte Gruppe bestand aus Leuten, die letztlich überhaupt keine Chancen am Arbeitsmarkt hatten.

Sowohl diejenigen, die wollten, haben eine Chance gehabt, einen Arbeitsplatz zu bekommen, als auch diejenigen, die konnten, die also von der Ausbildung her prädestiniert waren, zu einer guten Stammannschaft zu gehören. Es hat durchaus Leute gegeben, die gekonnt hätten, die wir aber nicht gewollt haben, weil sie ihr Interesse nie dargestellt haben und auch in der Konzeptionsphase des Unternehmens nicht in Erscheinung getreten sind, sondern sich da immer bedeckt gehalten haben. Denen war die Situation fremd, denen war sicher auch meine Herangehensweise an diesen Betrieb zu exotisch, zu wenig führungs- und hierarchieorientiert. Dann hat es Verschiebungen gegeben, von beiden Seiten. Mit der Konkretisierung des Unternehmens sind Leute, die anfangs eine sehr große Schnauze hatten, zurückgefallen.

Beispielsweise war ein Kollege in der Konzeptionsphase immer sehr massiv aufgetreten. In dem Augenblick aber, wo er an der Maschine stand und die Verantwortung für ein sehr teures Werkstück hatte und diese existentiell gespürt hat, mußte er sagen: „Nee, ich kann nicht, ich muß in einen anderen Betrieb. Ich kann nicht verantworten, daß ich jetzt Ausschuß produziere und das Geld fehlt uns allen dann nachher.“

Ungleiche Erwartungen,

gleicher Frust

Auf der anderen Seite hat es Leute gegeben, die, bis die ersten Werkstücke bearbeitet worden sind, das Ganze noch für spinnert gehalten haben und erst dann mitgestaltet und auch eine sehr gute Arbeit gemacht haben.

Einer der wesentlichsten Fehler, den wir in dieser Anfangssituation gemacht haben, war, daß wir die Wünsche an die Gestaltung des Betriebes und an Gerechtigkeit, an Geradlinigkeit, an sozialer Fürsorge in unendliche Höhen geschraubt haben, die in der Praxis aufgrund der Marktverhältnisse gar nicht einzuhalten waren. Wir haben außerdem die Organisation des Betriebes ausgerichtet an den Wünschen, an den Forderungen, an den vermeintlichen Möglichkeiten derjenigen Leute, die am engagiertesten waren. Das hat sich als ganz krasser Fehler erwiesen, der zu einer Spaltung innerhalb des Betriebes geführt hat.

Die engagierten Leute konnten ständig nur noch unglücklich sein, weil sie moralische Forderungen haben, und jene hatten ihrerseits das Gefühl, in die Enge getrieben zu sein beziehungsweise unterdrückt zu werden. Diese Spaltung hat sich über vier Jahre in unterschiedlichen Formen ausgedrückt und wir mußten im Laufe der Zeit den Fehler einsehen und Strukturen im Betrieb verändern; also die Strukturen gangbar machen für Menschen mit unterschiedlichen Ausgangserwartungen und Ausgangsmöglichkeiten.

Dieser Prozeß hat zu einer hohen Fluktuation im Betrieb geführt. Heute ist nur noch ein Viertel der Leute von Voith. Menschen, die an einem Arbeitsplatz interessiert waren, sind rausgegangen, weil dieses Arbeitsverhältnis viel zu anstrengend geworden ist. Es sind aber auch Leute, die sehr engagiert waren, rausgegangen aus dem Betrieb, weil ihre hohen Erwartungen aufgrund der kleinen Möglichkeiten nicht erfüllt werden konnten.

Mit unkonventionellen

Strukturen beginnen

Die Geschäftsleitung von AN hat doch auch aus engagierten Selbstverwaltern bestanden?

Das war ein grundsätzlicher Fehler, daß nicht jemand Protagonist der Selbstverwaltung sein kann, der gleichzeitig die Geschäftsführung macht, weil das dann gar nicht lebensfähig ist. Das hat dann sowas von Verordnungscharakter, die Leute zu zwingen, sich selbst zu verwalten. Ein Teil der Probleme ist sicherlich auch darauf zurückzuführen.

Das heißt also, daß die wesentliche Erkenntnis darin besteht, erst einmal von relativ konventionellen Strukturen auszugehen und diese über das Interesse der einzelnen Personen weiterzuentwickeln.

Das wäre schon eine neue Situation im Betrieb und sicherlich eine notwendige Grundvoraussetzung: Anfangen mit eher herkömmlichen Strukturen, darüberhinaus die Unterstützung der Initiativkraft in der Belegschaft und besonders der guten Leute auszubauen und nicht, wie wir das gemacht haben, das zurücknehmen. Denn ein ganz wesentlicher, negativer Aspekt dieses Zurücknehmens war ja, daß die Leute, die sehr engagiert waren, in ihren Entfaltungsmöglichkeiten beschnitten worden sind. Das ist immer am bittersten und wir hatten davor auch sehr große Angst, daß das einen ganz negativen Beigeschmack hat und im Grunde alle Initiative zerstört. Aber das ist Gott sei Dank nicht der Fall gewesen, bei einigen zwar schon, aber nicht beim harten Kern der Leute.

Scheindemokratie

Eine Attraktivität des Belegschaftsbetriebes müßte doch darin liegen, daß, wenn schon lange und hart gearbeitet wird, die Arbeit selbst wenigstens Spaß macht.

Bei uns hat sich über eine Befragung herausgestellt, daß die Arbeitszufriedenheit weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist und daß auch das Auskommen mit den Kollegen beziehungsweise mit den späteren Vorgesetzten weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist. Auf der anderen Seite war die manuelle Arbeitsbelastung unerwartet niedrig. Das ist symptomatisch für die Strukturlosigkeit, die anfangs bestanden hat, die auf der menschlichen Ebene nur Überforderung produziert und auf der Produktionsebene eher eine Unterordnung darstellt. Es ist nicht sehr rigide mit der Produktivität umgegangen worden.

Die herkömmlichen Hierarchien beinhalten sowohl eine Disziplinierungs- als auch eine Stützfunktion. Bei uns ist die Disziplinierungsfunktion weggefallen und dadurch hat erstmal bei einem Teil der Belegschaft ein Ausleben von den ganz kleinen, persönlichen Freiheiten stattgefunden. Die zweite Seite ist das Wegfallen der Stützfunktion, was bedeutet, daß Verantwortungsbereiche nicht mehr klar abgegrenzt sind. Dazu gehört die Informationsflut, die nicht mehr selektiv gesteuert wird und damit zu einem Faktor geworden ist, der uns große Schwierigkeiten bereitet hat: Was muß wer wissen, damit er effektiv arbeiten kann, und nicht alle wissen alles, auch wenn sie gar nichts damit anfangen können. Wir haben mit den basisdemokratischen Strukturen, wie sie ursprünglich bestanden haben, so etwas wie eine Scheindemokratie gehabt. Das heißt, wir haben Leute gezwungen, sich über Dinge den Kopf zu zerbrechen, die sie nicht verstehen konnten, weil sie das nicht gelernt haben, und dann auch noch darüber zu entscheiden, wo ihnen eigentlich nichts anderes übriggeblieben ist, als nach dem Gefühl zu gehen beziehungsweise sich den langen und ausufernden Erklärungen der Geschäftsleitung anzuschließen.

Über die Stukturlosigkeit hat sich viel zu wenig mittelfristiges, gemeinsames Betriebsinteresse gegenüber den Individuen formuliert. Jeder hat sich orientiert an dem, der gerade noch etwas langsamer oder vorsichtiger arbeitet und die wirtschaftlichen Interessen des Betriebes sich erst mal gegenüber den einzelnen formulieren müssen, damit Ergebnisse erzielt werden können, von denen aus man dann wieder verteilen kann, auch induviduelle Freiheiten. Und das haben wir im Grunde umgekehrt gemacht, fehlerhafterweise.

Gesamtinteressen gehen vor

Was heißt bei euch Interessenvertretung?

Zu Anfang hatten wir jede Woche eine Betriebsversammlung, in der so ziemlich über alles gesprochen worden ist. Später hat es noch monatlich eine Betriebsversammlung gegeben, und wir haben Ausschüsse für bestimmte Funktionen eingesetzt, die von der Belegschaft gewählt worden sind. Jetzt gibt es nur vierteljährlich eine Betriebsversammlung. Die wöchentlichen Besprechungen finden fachbezogen statt, das heißt Fertigungsbesprechungen zwischen Arbeitsvorbereitung und dem Meister, den es jetzt gibt; und Finanzplanung auch wöchentlich mit den daran beteiligten Personen und einem Aufsichtsrat, der von der Belegschaft gewählt worden ist. Der schaltet sich nicht mehr in das Tagesgeschehen ein, ist auch nicht über alle Einzelentscheidungen der Geschäftsführung im Tagesgeschehen informiert, sondern ist eine globalere Kontrollinstanz geworden.

Die ursprüngliche und sehr direkte Interessenvertretung der Belegschaft war zweideutig. Zweideutig sogar in dem Sinn, daß oft nicht auf Anhieb zu erkennen war, ob es sich um das Vertreten eines indiviudellen Interesses handelte oder um das Vertreten des betrieblichen Gesamtinteresses. In der zweiten Phase, in der Phase des Ausschußsystems, hat diese Zwitterrolle in den Ausschüssen immer noch eine Rolle gespielt, sowohl im Wirtschaftsausschuß als auch sehr stark im Personalausschuß. Heute ist die Struktur praktisch so, daß der Aufsichtsrat definitiv die Gesamtinteressen des Unternehmens zu vertreten hat, also nicht Einzelinteressen, auch nicht in die Bresche springen muß oder sollte, wenn einzelne Menschen sich schlecht behandelt fühlen, sondern tatsächlich die Gersellschafterinteressen des Unternehmens, in dem alle dort Beschäftigten Gesellschafter sind.

Genauso, wie immer deutlicher geworden ist, daß das Betriebsinteresse sich deutlich gegenüber den einzelnen formulieren muß. Und je weniger persönliche Moral und Engagement eine Rolle gespielt haben durch die Fluktuation, desto deutlicher mußte sich das Betriebsinteresse formulieren und darstellen und durchsetzen. Im gleichen Atemzug ist es dann erforderlich, daß der einzelne einen Schutz seiner Interessen erhält. In dem Augenblick, wo man die eine Seite stärkt, muß man auch eine Möglichkeit schaffen, daß sich das andere formuliert.

Gleichzeitig mit Einführung dieser Struktur haben wir deshalb gesagt, wann immer sich jemand findet, der einen Betriebsrat wählen möchte, steht dem überhaupt nichts im Wege, und der hat auch die volle Unterstützung.

Spielräume

Wie ist das mit der Beschäftigungssicherheit? Hat euer Aufsichtsrat auch das Ziel, in jedem Fall Entlassungen zu vermeiden?

Ähnlich wie bei Konzernen, die sagen, wir müssen, um 1.000 Arbeitsplätze zu retten, 500 über den Jordan gehen lassen, muß in einer vergleichbaren Situation der Aufsichtsrat argumentieren, also im Sinne von Substanzerhaltung. Der Unterschied gegenüber privatkapitalistisch organisierten Betrieben läge eigentlich nur in dem Spielraum der Ergebnisverteilung.

Gibt es nicht eine hohe Faszination, im Betrieb hart anzupacken, Kosten zu sparen, wirtschaftlich zu sein usw.?

Es hat etwas mit dem Wechselspiel von Idealismus und Enttäuschung zu tun, denke ich. Wenn es Leute sind, die jahrelang den ganzen Prozeß miterlebt haben, die früher immer gegen Akkordarbeit und für Einheitslohn oder sonstwelche sehr hoch angesiedelten sozialen Experimente argumentiert haben, die aber in dem Augenblick, zu dem sie mit jemandem konfrontiert sind, der auch 35 ist, vielleicht so alt wie sie und gesund, aber füchterlich faul, plötzlich den Gedanken haben: „Kerl, am besten wäre es, wenn wir Akkordlohn bei uns hätten. Dann sollte der mal sehen, wo er bleibt.“ Natürlich geht davon eine Faszination aus, speziell wenn sie sich die Nächte um die Ohren geschlagen und Nachtschichten gemacht haben und jemand anderes völlig unter dem notwendigen Maß an Arbeit bleibt.

Aber bei uns nehmen diese Aufgaben eben Leute wahr, die in einem normalen Betrieb über die Wege der Hierarchie in andere Funktionen reinkommen würden, wenn sie von ihrem Vorgesetzten gut eingeschätzt würden. Das haben sie sich eben bei uns selbst erarbeitet. Wobei ich denke, daß es für die Menschen, die so weit über sich selbst hinausgewachsen sind, wesentlich produktiver ist bei uns als in anderen Betrieben. Daß sie also wesentlich mehr haben lernen können und wesentlich mehr an Erfüllung darin finden, so schwer das auch immer sein mag.

Das Gespräch führte Eckart Hildebrandt

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