: Das letzte Wort: ein Fluch
Nach dem 1:3 gegen Frankreich: Die Bulgaren sind draußen, aber nicht enttäuscht. Aber haben die Bulgaren vielleicht enttäuscht? ■ Aus Newcastle Peter Unfried
Die Bulgaren sind nicht enttäuscht. Die Bulgaren sind nicht enttäuscht. Die Bulgaren sind... „Enttäuscht?“, fragte Dimitar Penew: „Wir sind nicht enttäucht.“ Enttäuscht, Yordan Letschkow? „Sind wir nicht“, sagte der fröhlich und streckte die Zunge heraus. Und sein Trainer wieder: „Es muß auch Verlierer geben.“ Das ist schön und wahr gesprochen, und mancher möchte wünschen, es gäbe mehr Sportsmänner von der Sorte wie Onkelchen Penew.
Was aber ist über die, die nicht enttäuscht sind, nach dem 1:3 gegen Frankreich und dem daraus resultierenden EM-Ausscheiden von neutraler Seite zu sagen? Daß sie enttäuscht haben, vielleicht?
Sagen wir: Es war zu sehen, daß zwischen dem Fußball des Gruppensiegers und jenem des nunmehrigen Dritten bedeutende Unterschiede bestehen. Etwas vereinfacht in einen Satz gebracht: Die Franzosen spielen Teamfußball. Der ist gut organisiert, doch noch nicht zur Gänze zu Ende gedacht; in diesen Tagen wird er weiter „modifiziert“, sagt der Trainer.
„Das Team“, nennt Aimé Jacquet das, „probiert sich aus gegen erfahrene Gegner – aber es ist immer noch sehr experimentell.“ Bei den Bulgaren ist nichts mehr experimentell. Zwar weiß jeder, was er zu tun hat. Und was zu lassen. Doch im Gegensatz zu den französischen Blue-collar-Kräften, werden jene der Bulgaren als bloße Domestiken gehalten – und sind einfach nicht besser, als etwa ein Zweitligaspieler wie Waldhofs Zanko Zwetanow.
So kann man Krassimir Balakow verstehen, der im St. James' Park auf die Frage, ob die Bulgaren nicht mehr so gut seien, kurz nachgedacht hat und dann antwortete: „Nicht so gut? Nein. Wir haben vielleicht ein anderes Denken.“ Das Denken ist folgendes: „Wir haben eine große Mannschaft mit vielen großen Individualspielern.“ Letschkow zählte sie auf: Stoitschkow, Balakow, er selbst. Dann fiel ihm nach längerem Nachdenken gar Trifon Ivanow ein. Und Emil Kostadinow, der verletzt fehlte. „Wenn Kostadinow ausfällt“, sagte er, „trifft das unsere Taktik.“
Weil der Bayern-Stürmer ausfiel, war nach vorne kaum zu spielen, da Luboslaw Penew, der Trainerneffe, nicht ins Spiel einbezogen wird, wohl, weil er nicht einbezogen werden kann. Wenn dann auch noch Balakow weitgehend übergangen wird oder werden muß, bleiben Stoitschkow und Letschkow. Ersterer beschäftigte sich eine Halbzeit damit, sich auf Kosten von Gegenspieler Marcel Desailly auf Touren zu bringen (siehe „Gurke“), dann beschränkte er sich darauf, den wackeren Ivanow zu schelten, weil dessen Pässe unüberraschenderweise nicht bei ihm ankamen.
Einmal allerdings ging er zum Freistoß und schoß ihn einfach rein. Das ist Bulgarien: „Drei, vier, die gut zusammenpassen“ (Letschkow), doch Entscheidendes müssen die alleine bewerkstelligen. Wird einer fehlen, wenn im Herbst die WM-Qualifikation beginnt? „Warum soll einer aufhören“, fragte Letschkow (29).
„Wir sind 29, 30, 28, wir haben unser letztes Wort noch nicht gesprochen“. Nasko Sirakow, der in Ehren gehaltene Alttoremacher, wird demnächst einmal gehen müssen. Doch der ist 33 und saß in England eh nur noch auf der Bank.
Seit nun drei Jahren spielen die Bulgaren nahezu unverändert. Von denen, die in der WM-Qualifikation im Herbst 1993 in Paris 3:2 gegen Frankreich gewannen, fehlte in Newcastle nur Kostadinow. Der hatte damals in letzter Minute den Siegtreffer geschossen und damit Bulgariens beste Phase eingeleitet, die im WM-Halbfinale gipfelte.
Vielleicht ist es ja tatsächlich so, daß die Bulgaren noch so gut sind wie damals. Doch wie sich der Fußball seither entwickelt hat, sieht man an Frankreich. Einen Stoitschkow haben die nicht, dafür einen Verbund, in dem alle ein weitreichendes Aufgabenfeld erfüllen und immer wieder andere ihre Lust am Spiel einbringen können. Das oberste Ziel des scheinbar freien Improvisierens aber blieb: „Die Schwachstellen der Bulgaren zu finden“ (Jacquet). Die entscheidenden beiden Tore waren erarbeitet: Zweimal flankte Djorkaeff auf den Kopfballspezialisten Laurent Blanc. Einmal sprang Stürmer Penew nicht mit, beim zweiten Mal war er schneller und köpfte ihn selbst rein. Als man auf der Tribüne die Gesichter der bulgarischen Journalisten erstarren sah, hatte Spanien in Leeds das 2:1 geschossen.
Vielleicht ist es so: Die Franzosen schaffen Individualität, unter der Bedingung, daß das Team funktioniert. Die Bulgaren funktionierten als Team, als Einzelne etwas schufen.
Es sieht ganz so aus, als hätten sie ihr letztes Wort doch in Newcastle gesprochen. Vermutlich kam es von Stoitschkow, sehr wahrscheinlich war es ein Fluch. Vielleicht ist das die wahre Enttäuschung.
Bulgarien: Michailow - Kremenliew, Iwanow, Hubtschew, Zwetanow - Jankow (79. Borimirow), Jordanow - Letschkow, Balakow (82. Donkow) - Stoitschkow, Penew
Zuschauer: 26.976
Tore: 1:0 Blanc (20.), 2:0 Penew (63./Eigentor), 2:1 Stoitschkow (69.), 3:1 Loko (90.)
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