: Das korsische Volk narrt die französische Übermacht
Sämtliche Staatsdiener der Insel sind im Ausstand / Am Wochenende marschierten 12.000 DemonstrantInnen zur Pariser Präfektur / Auf der „schönsten Insel der Welt“ schlägt die Stunde der Separatisten und Nationalisten ■ Aus Bastia Georg Blume
Korsika erwacht. Unerwartet ist auf der Insel der Siedepunkt erreicht. „Omu culerosu, omu periculosu“ - „Wütender Mensch, gefährlicher Mensch“ sagt das korsische Sprichwort.
Vom längsten Streik gegen die französische Regierung bis zu den größten nationalistischen Demonstrationen aller korsisch -französischen Zeiten an diesem Wochenende: „Überall sieht man Dinge von Wert, doch solche Aktionen sieht man nur bei freien Völkern.“ So schrieb Frankreichs Aufklärer Voltaire im Frühling 1769, als 15.000 Korsen an der Ponte Nouvo angesichts einer doppelten französischen Übermacht den Tod statt der Gefangenschaft wählten. Seither steht Korsika unter Pariser Herrschaft.
Wenn ein Volk die Herrschenden täuscht, statt sich von ihnen narren zu lassen, dann muß es sich um ein politisch außergewöhnlich gebildetes und weitsichtigtes Volk handeln. Am Samstag demonstrierten die Korsen ihr in Jahrhunderten der Fremdherrschaft geschultes politisches Kalkül. Eine „Entgleisung in Richtung Mai '68“ konstatierte die Pariser 'Le Monde‘ Ende vergangener Woche nach tagelangen Straßenkämpfen in der korsischen Provinzhauptstadt Bastia. Steinschlag und Tränengas waren auch für das Wochenende erwartet worden. Dann aber nichts davon. Annähernd 12.000 DemonstrantInnen, jede zwanzigste KorsIn also, traten am Samstag in Bastia und Ajaccio zum Schweigemarsch auf die Pariser Präfekturen an. Nie zuvor seit den Tagen Voltaires waren so viele Menschen unter der Flagge der Separatisten zu gleicher Stunde auf der Insel zusammengekommen. Nach den klirrenden Steinen das unheimliche Schweigen der Menschenmenge. So narrt das korsische Volk die französische Übermacht. „Die Lage auf Korsika ist nunmehr gefährlich“, titelt gestern die Pariser 'Sonntagszeitung‘. Genüßlich lesen die BürgerInnen Bastias an diesem Morgen die Schlagzeilen vom Kontinent.
Ausgerechnet die Angestellten im öffentlichen Dienst, Frankreichs treueste Verbündete auf der Insel, brachten die Revolte ins Rollen. Seit sechs Wochen dauert der Generalstreik der Staatsdiener auf Korsika an. „Die Geschichte wird festhalten, daß wir es waren, die Kommunisten bei der Post, mit denen alles begann“, freut sich der Postbeamte aus den Bergen, Michel Patrice, der zur Sitzung des Exekutivrates der kommunistischen CGT -Gewerkschaft nach Bastia gekommen ist. Den Postlern folgten Lehrer, Fluglotsen, Verwaltungsangestellten etc., um der Regierung eine Zusatzprämie für das „teure Leben“ auf der Insel abzuringen. 15 Prozent mehr kostet der Warenkorb auf Korsika im Vergleich zum französischen Festland. “ „Zwischenhändler und Provinzhonoratioren beuten die Insel auf vielfältige Weise aus“, meint Michel Patrice. Nun steht Korsika Kopf. Renten, Arbeitslosen- und Sozialgelder bleiben in der Staatskasse, denn niemand zahlt sie aus. Nicht nur den Streikenden, die ein Viertel aller Beschäftigten auf der Insel bilden (21.000), auch den Alten und den 10.000 Arbeitslosen fehlt seit einem Monat das Einkommen. Der Postverkehr ist stillgelegt, alle Flüge sind seit Tagen abgesagt, die Schiffe fahren reduziert. „Das Wirtschaftsleben erlahmt. Die Situation ist ernst“, bemerkt Jean-Yves Lallart, Kabinettschef des Präfekten in Bastia. Was kann der Repräsentant der Regierung vor Ort noch tun? „Wir versuchen, guten Willen zu zeigen, zwischen Regierung und Streikenden zu vermitteln und denen zu helfen, die nichts mehr zu essen haben.“ Lallart ist machtlos. Im Zentralstaat Frankreich gibt es zwischen Bastia und Paris immer noch keine Vermittlungsinstanz. Das nutzt den Separatisten.
Die Korsen sind bekannt für ihre Empfindlichkeit. Man soll sie nicht beleidigen. Nachdem die Pariser Regierung die Streikforderungen der Korsen wiederholt ablehnte, gar die Dreistigkeit besaß, einer in die Hauptstadt geladenen Verhandlungsdelegation das Angebot zu machen, eine Flugkostenprämie von zehn Mark im Monat zu zahlen, schlug die Stunde der korsischen Nationalisten. „Die gesamte korsische Gesellschaft steckt in der Krise. Diese Krise ist das Ergebnis einer kolonialistischen Politik. Wir rufen zur Mobilisierung des korsischen Volkes auf und verurteilen korporatitische Forderungen.“ Pünktlich, zur rechten Stunde meldete sich am Freitag erstmals seit Streikbeginn die korsische Untergrundorganisation FLNC (Nationale Korsische Befreiungsfront) zu Wort. Jahrelang hatte die FLNC mit täglichen Sprengstoffattentaten (derer man noch 1987 über 1.000 zählte) Korsika verunsichert, bis die Organisation im März 1988 einen Waffenstillstand verkündete und sich seitdem diszipliniert im Hinterhalt versteckt. Wichtig aber ist, das die FLNC existiert.
„Der öffentliche Friede ist ernsthaft bedroht und wird es weiterhin sein, wenn nicht augenblicklich Abhilfe geschaffen wird“, warnt Korsikas Nationalistenführer Edmond Simeoni am Samstag vor 8.000 DemonstrantInnen in Bastia. Das Schlagwort „Autonomie“, das nach der französischen Eroberung 1769 erst Anfang des 20. Jahrhunderts in Korsika wiederauftauchte, dann von den Weltkriegen verschluckt wurde, nahm mit der 1967 von Simeoni gegründeteten ARC-Bewegung einen neuen Aufschwung. 1975 zeigten Umfragen, daß 38 Prozent der korsischen Bevölkerung den gemäßigten Forderungen Simeoinis nach politischer Dezentralisierung und wirtschaftlicher Eigenständigkeit zuneigten. Simeoni trat jedoch in den Hintergrund, als sich der nationalistische Widerstand nach seiner Verhaftung 1975 mit der Gründung der FLNC radikalisierte. Erstmals seit 15 Jahren stand Simeoni, dessen Ansehen auf der Insel keinem zweiten gleichkommt, am Samstag wieder an der Spitze des Protests.
Simeonis Traum steht geschrieben im „Gesellschaftsvertrag“ von Jean-Jacques Rousseau, dem bedeutensten Aufklärungswerk: „Es gibt in Europa noch ein Land, das fähig ist, Gerechtigkeit zu schaffen: das ist die Insel Korsika. Die Würde und die Beständigkeit, mit der dieses tapfere Volk verstanden hat, seine Freiheit zu verteidigen, würde eines weisen Mannes verdienen, der den Korsen lehren könnte, die Freiheit auch zu bewahren.“ Simeoni, der Weise, rief am Samstag zum Dialog auf - mit der Hoffnung, sicherlich, daß Paris sich weiter taub stellt.
Denn noch haben sich Gewerkschaften und Nationalisten nicht zum Kampf verbündet. Noch kann Paris die einen befrieden, um die anderen auszuschalten. Wenn allerdings Premierminister Michel Rocard weiter auf die „Ausnutzung“ des Konflikt vor Ort setzt, dann kann ihm bald ein korsisches Wunder blühen. Rocard muß Voltaire und Rousseau nachlesen. Die hatten erkannt: Die Korsen sind ein sehr politisches Volk. Seit den Römern überlebten sie 19 wechselnde Fremdherrschaften und inszenierten 37 Aufstände, durchlebten sieben Perioden der Anarchie. „Korsika“, sagt meine Wirtin voll tiefster Überzeugung, „ist die schönste Insel der Welt.“
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