piwik no script img

„Das hier ist Streß“

■ Die Karneval-Saison hat begonnen und es wird gnadenlos gefeiert - auch in Berlin

Es gibt immer wieder Ereignisse, bei denen man sich fest im Griff haben muß. Zu diesen Ereignissen zählt auch eine Karnevalsveranstaltung, die am Samstag abend in dem Schultheiss-Festsaal an der Hasenheide stattfand. Der Berliner Carneval-Verein hatte zum 20jährigen Jubiläum geladen (daß sich diese Vereinigung ausgerechnet 1968 gründen mußte) und knapp 800 Narren waren gekommen.

Die grauen und von jahrelangem Zigarettenqualm vergilbten Tapeten sind behelfsmäßig mit buntem Schmuck geziert, der schlaff von der Decke hängt. Ein Kellner schreit sich zwischen den Wahnsinnigen den Weg frei, balanciert den billigen Wein zu endlos langen Tischen. Hier sitzen sie, die Freunde des Humors, der Freude, ein paar ansatzweise verkleidet, die meisten im Anzug mit Schlips. Fette Gestalten, dumpfe Gesichter, dick aufgetragene Schminke. Ein Vorständler schaut mich mit glasigen Augen an, schüttelt mir kräftig die Hand (weil er sich über die Presse freut) und verkündet: „Das hier ist Streß.“

Ein Fotograf, der seine Bilder später ans Volk verkaufen will, schiebt sich hektisch seine Opfer zusammen. Da wird ein Grinsen aufgelegt, da legt der Mann seinen Arm um die Dame. Dann der Einmarsch der Karnevalesen. Die Standarten vornweg, mit Totengräber-Handschuhen tragen sie bombastische Fahnen herein. Vorbei an grinsenden Zeitgenossen, die plötzlich johlen, schreien, applaudieren. Wie zu Weihnachten: Alle sind auf Kommando feierlich, gut gelaunt „Berlin-Heijo!“

Die Funkenmariechen verrenken beim Einzug ihre Körper ins Endlose, schreien sich in den Exzeß: „Berlin-Heijo!“ Videokameras werden gezückt, die Herren halten voll auf die Röckchen der langbeinigen Mädchen. Alles wird festgehalten für den Familienabend, Videoten auf Stühlen und profihaft hinter ihren Stativen. Vorn thront der Elferrat, eine Männergesellschaft mit unterschiedlich langen Federn auf den Narrenkappen: Zeichen der Narren-Hierarchie. Für die Mädchen gibt es Küßchen und ein Plüschbärchen: „Berlin-Heijo!“ Zwischendurch grölt der ganze Saal: „Schwarzbraun ist die Haselnuß.“ Es wird immer schlimmer.

Ehrengäste wie der Bezirksbürgermeister Wolfgang Krüger (CDU) werden von jeweils zwei Mädchen untergehakt - wieder Küßchen in die Politikergesichter. Allgemeiner Ordensaustausch, nette Worte zur Begrüßung der Volksvertreter und zur Krönung die Überreichung einer Kappe. Jetzt gehören sie dazu. Ja - alles nicht so tierisch ernst nehmen, heute stürmen wir das Rathaus und morgen die ganze Welt.

Der Büttenredner: ein als Kurzwarenhändler verkleideter Dickbauch: „Bezaubernd für die Männerwelt - ein Busen der gefällt. Unbeschreiblich ist die Pracht bei einem Busen Größe acht.“ Bravo-bravo, klatschen die Männer auf dem Podium, und im Saal verzücktes Gekreische zum nächsten Reim. Der Stimmungsmacher Bruno Gigolo: Er tanzt vor, und alle hinterher. Winken und singen, hopsen und Grimassen schneiden. Er macht die Masse zu Idioten. Und alle lachen sich kaputt: Mensch - sind wir bescheuert.

Theo Düttmann

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen