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Archiv-Artikel

„Das Waisenkind der Kommunisten“

Die Sozialisten in Frankreich haben derzeit keine Orientierung und keine Führung. Es kann gut sein, dass künftig nicht mehr der linke Diskurs dominiert, sondern Ségolène Royal mit ihren rechten Themen wie innere Sicherheit

MICHEL DREYFUS, 61, ist Historiker und Forschungsdirektor beim CNRS und arbeitet an der Universität Paris I. Er hat zahlreiche Bücher über die Arbeiterbewegung und die linken Parteien in Frankreich veröffentlicht. Er war einer der wissenschaftlicher Leiter der umfassenden internationalen Forschungsarbeit, die in dem Buch „Le Siècle des communismes“ mündete. Im Präsidentschaftswahlkampf hat er Ségolène Royal unterstützt.

taz: Herr Dreyfus, wer ist der Chef der französischen Sozialisten?

Michel Dreyfus: Im Augenblick gibt es keinen. Der Kampf um die Nachfolge ist eröffnet zwischen Laurent Fabius, Dominique Strauss-Kahn und Ségolène Royal. Ich glaube, dass Fabius sehr teuer dafür bezahlen wird, dass er sich für das „Non“ beim EU-Referendum ausgesprochen hat.

Sein „Non“ entsprach aber dem der Mehrheit der Basis der Partie Socialiste (PS).

Vor dem Referendum hatte sich die PS in einer internen Abstimmung für ein Ja ausgesprochen. Das Nein war ein totaler Irrtum, der die PS von der europäischen Linken abgeschnitten hat.

Worin sehen Sie die programmatischen Unterschiede der drei Anwärter auf den Spitzenposten?

Fabius, der als Finanzminister neoliberale Politik machte, hat heute einen marxistischen Diskurs. Strauss-Kahn steht der Sozialdemokratie in anderen europäischen Ländern am nächsten. Ségolène Royal versucht, die PS „von rechts zu nehmen“ mit Themen wie der inneren Sicherheit, bei der die PS im Jahr 2002 komplett gescheitert ist. Sie hat auch angefangen, den tiefen Riss zwischen den Europabefürwortern und - skeptikern zu flicken.

Gilt für die PS dann wieder die Regel „Links blinken, rechts Politik machen“?

In der PS haben immer wieder Leute mit einem linken Diskurs die Spitze erobert. Guy Mollet hat das 1947 mit einem marxistischem Diskurs getan und anschließend die rechteste Politik gemacht, die die PS je erlebt hat. Auch Laurent Fabius, der gegen die EU-Verfassung war, hat den Versuch gemacht, die Spitze der PS links zu erobern. Das Originelle an Ségolène Royal ist, dass sie als Erste versucht, die Spitze der Partei von rechts zu erobern. Das steht im Gegensatz zu der kompletten Geschichte der Partei. Sie hat interessante Dinge vorgeschlagen. Etwa die „gerechte Ordnung“ und die Notwendigkeit, die Ordnung in den Vorstädten wiederherzustellen. Um das als Sozialistin zu sagen, ist Courage nötig. Aber es reicht nicht für ein Projekt.

Welches Adjektiv passt für die PS: sozialistisch oder sozialdemokratisch?

Noch sind es Sozialisten. Doch ihre Distanz von Gewerkschaften und Genossenschaften wiegt schwer. Wir haben heute eine PS, die in der Welt der Arbeit weniger präsent ist.

Sind die miserablen Wahlergebnisse der PS der Preis für ihre unklare politische Linie?

Das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen ist so schlecht nicht. Ségolène Royal hat ungefähr so abgeschnitten wie Jospin im Jahr 1995. Damals hat niemand gesagt: „Das ist eine Katastrophe“. Es war eine Niederlage. Aber kein Einsturz.

Jetzt kommt aber noch die Schlappe bei den Parlamentswahlen dazu.

Das ist etwas anderes. Die Kommunistische Partei (KPF) ist geschwächt. Und die extreme Linke – die mit sechs Kandidaten in die Präsidentschaftswahlen ging – ist unfähig. Neu ist, dass Sarkozy es sehr gut versteht, das politische Terrain weitgehend zu besetzen. Von Bayrous zentristischer Partei ist fast nichts übrig. Und mit dem Regierungsengagement von Leuten aus der Linken, wie Kouchner, hat Sarkozy eine Öffnung vollzogen. Darauf hat die PS keine Antwort.

In solch einer schlechten Verfassung war die PS noch nie.

Nun auch unter dem Gaullismus in den 50er- und 60er-Jahren war die PS in einer schlechten Situation. Der große Unterschied war, dass es eine mächtige KPF mit rund 20 Prozent gab. Heute ist die PS geschwächt und stellt sich die Frage ihrer Orientierung und ihrer Leitung. Aber sie hat keine Reserven mehr auf ihrer Linken. Die PS hat lange in einer Union de la Gauche mit der KPF funktioniert. Heute ist die PS ein Waisenkind der KPF.

Die PS selbst versucht doch seit Jahrzehnten, die KPF per Umarmung zu erdrücken.

Mitterrand hat in den 70er-Jahren die Politik des tödlichen Kusses (baiser de la mort) gemacht. Heute stellt sich die Frage, ob er damit nicht zu erfolgreich war. Die KPF ist auf dem niedrigsten Niveau ihrer Geschichte. Und wird peu à peu verschwinden. Allerdings konnte Mitterrand in den 70er-Jahren nicht voraussehen, dass die Sowjetunion verschwinden würde.

Wie kommt es, dass die PS nicht wie die SPD 1959 in Bad Godesberg ihr Programm grundlegend reformiert hat?

So kann man das nicht sagen. Die PS hat ihr Bad Godesberg nicht auf dieselbe Art gemacht wie die deutsche SPD. So hat François Mitterrand auch 1981 noch ein Programm von Verstaatlichungen gehabt. Aber nachdem die PS an der Macht war, folgte die Wende – mit der Bekämpfung der Inflation, um die Wettbewerbsfähigkeit zu fördern, und mit der Entwicklung der Börse. Tatsächlich hat die PS die Marktwirtschaft völlig anerkannt. Sie hat eine ideologische Wandlung durchgemacht.

INTERVIEW: DOROTHEA HAHN