: Das Schweigen der Lämmer
Verteidigung der Gewalt in Scorseses „Cape Fear“ ■ Von Thierry Chervel
Es gibt eine gerne und oft wiederholte Argumentation unter Filmkritikern, die mich immer ein bißchen gestört hat: Verhüllung sei erotischer als Nacktheit, der BH anziehender als die Brust, die hindurchscheint. Auch wenn was Wahres dran sein mag — ich seh das anders. Mich stört an diesem Argument, daß es sich allzu leicht in die Verteidigungsreden von Zensoren einbauen läßt. Mir schien immer, als diene es dazu, etwas Wesentliches zu unterschlagen: Anzüglich ist im Kino nicht der Anblick, sondern der Blick. Nirgends ist der Blick freier zu wandern als im Kino, nicht einmal beim Fernsehen, noch nicht vielleicht, denn noch ist der Blick aufs Fernsehen wegen des kleineren Bilds gebündelter, und noch ist das Fernsehen wegen der geringeren Auflösung detailärmer.
Im Kino sind die Objekte überlebensgroß, und den Zuschauer und die Zuschauerin möchte ich sehen, die ihren Objekten nur ins Auge blicken. Was fehlt im Kino, ist die soziale Kontrolle, der Gegenblick des Objekts oder Dritter, die die kategorischen Imperative ins Gedächtnis rufen. Das Überich sagt im Kino ade. Darum ist Kino ja so schön. Aber wenn man sich umdreht — dieses Gaffen der atomisierten Masse —, das ist nicht so schön.
Ein ähnliches Argument bringen viele Kritiker nun gegen Scorseses Cape Fear vor. Cape Fear ist ein Remake des gleichnamigen Films mit Robert Mitchum von 1961. Was dort der Vorstellung überlassen blieb, wird bei Scorsese gezeigt: die Gewalttätigkeit des aus dem Gefängnis entlassenen Verbrechers auf der Jagd nach seinem ehemaligen Anwalt und dessen Familie.
Scorsese sei obszön, sein Cape Fear sei ein Splatterfilm. Die Suggestionstechniken des Originals, so lautet das Argument der Kritiker, seien das ästhetisch würdigere, ja letztlich kraftvollere Mittel. Die Gewalt spiele sich dann im Kopf des Zuschauers ab wie die erotische Fantasie vorm verhüllten Objekt. Daran mag wiederum etwas Wahres sein — aber ich seh das anders. Es gibt gezeigte Gewalt in Filmen, die zum Kanon aller Kritiker gehören, die ist schwerer zu vergessen als alle höchstselbst erträumten Schreckgesichte — der Augenschnitt bei Bunuel, die zerfetzten Kaninchen in Renoirs Spielregel, die Messerstiche ins Gesicht bei Hitchcock, der Fenstersurz in Polanskis Mieter.
Ein Film, der Gewalt zeigt, ist nicht gleich ein Splatterfilm, auch wenn genausoviel zu sehen ist. Eine Sexszene ist nicht gleich pronographisch, selbst wenn sie ins Detail geht. Es hat etwas mit Vermittlung zu tun. Sex in der Pornographie und Gewalt in Splatterfilmen sind unvermittelt, oder nur rudimentär vermittelt — eine Fabel wird als Vorwand drumherum gestrickt. Sie sind das Eigentliche, und darum abstrakt und ästhetisch unwürdig. Machtlos sind sie trotzdem nicht. Dann würden sie gar nicht konsumiert. Vielleicht erzeugt gerade die ästhetische Leere bei manchen Zuschauern einen Sog und Wiederholungszwang — was sozialpsychologisch zu untersuchen wäre.
Der Blick des Zuschauers im Kino ist frei zu wandern, aber natürlich erst nach der Vermittlung durch den Blick des Regisseurs in die Kamera. Nicht Verhüllung oder Nacktheit, sondern diese Vermittlung entscheidet über die erotische Kraft und ästhetische Dignität eines Bilds. So ist es auch mit der Gewalt. Die Frage ist, ob sie gesehen und — vielleicht nur in der Fantasie — erlebt ist, ob sie, gerade als Moment des Schocks, als Diskontinuität, in eine ästhetische Kontinuität und Wahrscheinlichkeit vermittelt ist.
Schon in Who's that Knocking at my Door hielt Harvey Keitel seine Hand über brennende Kerzen — am liebsten über geweihte Kerzen in der Kirche. Und ist Scorseses Christus etwa ein Splatterfilm, weil darin zu sehen ist, wie Jesus ans Kreuz genagelt wird? Die rasende Angstlust am Schmerz, das Spüren- und Sehenwollen, hatten bei Scorsese immer schon mit der exzessiv gewalttätigen Geschichte Jesu und seiner fatalen Gefolgschaft zu tun, in deren Fänge der Regisseur als Kind geraten war.
Der flambierte de Niro, der Wangenbiß, der Ausrutscher in der Blutlache: Statt den Schock der Gewalt in Scorseses Cape Fear mit dem Argument abzuwehren, daß das Original Gewalt nur suggerierte und trotzdem spannend war, sollte man in dem Film eher Scorseses eigene Traditionen suchen. Mit Suggestion, eben Vermittlung, arbeitet auch Scorsese. Cape Fear ist furchtbar spannend, trotz einiger Schwächen — da schweigen die Lämmer.
Nur eins ist traurig und fällt in allen amerikanischen Filmen dieses Festivals auf. Gewalt zeigen sie, aber Sex — also irgendwie das Gegenteil, Zärtlichkeit, die konkret wird — ist tabu und kommt allenfalls in Zusammenhang mit Gewalt vor. Selbst in Woody Allens Shadows and Fogs geht ein serial killer um — aber William Lees Liebhaber muß in Cronenbergs Naked Lunch in Boxershorts aus dem Bett steigen. Alles Filme aus einem Land, in dem Bidets verboten werden, weil sie zu sexuellen Handlungen anregen, während Schußwaffen frei verkäuflich sind.
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