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Archiv-Artikel

HAMBURGER SZENE VON MAXIMILIAN PROBST Das Philosophen-Luder

Aus einem abstrusen Zufall heraus habe ich heute morgen einen Blick in die Minima Moralia geworfen. Und, schwupps, hatte ich die Adorno-Brille auf der Nase. In der S-Bahn sah ich dadurch zwei junge Frauen. Die eine hatte mehrere Piercings, durch Zunge, Augenbrauen, Ohrläppchen, eins im Kinn. Funkelnd wie die Nadeln war auch ihre Haut. Ein bronzener Teint, der im Sonnenstudio ein Vermögen gekostet haben muss. Das alles sah ich nur so im Streifen, denn ich wollte den beiden keinerlei Aufmerksamkeit schenken. Zu krude, ihr Buhlen darum!

Aber sie vollständig auszublenden war mir auch nicht möglich, und so hörte ich sie mehrmals rülpsen, brüllend lachen, immer wieder das Wörtchen „Luder“ lustvoll und spitz wie einen Schrei in die Luft schießen, sich mit einem tiefer gestimmten „Digger“ wieder auf den Boden der Tatsachen zurückrufen, und ein Lied anstimmen, dessen Refrain in einem kurz ausgestoßenen „Scheiß“ endete. Als ich ausstieg, sah ich, dass das halbe Abteil fasziniert und abgestoßen zugleich an den Lippen der beiden jungen Damen hingen.

Was das mit Adorno zu tun hat? Dessen Denken gewinnt der Tatsache immer viel ab, dass gewisse Dinge sich zum Verwechseln ähnlich sehen und doch nicht verschiedener sein könnten. Weshalb es andere Dinge gibt, die nicht unterschiedlicher erscheinen könnten, und sich dennoch zum Verwechseln ähneln. So dachte ich beim Anblick der jungen Frauen gleich an Heidegger. Den habe ich nie verstanden. Aber es heißt, dass sich ihm keiner entziehen konnte, wenn er sprach. Alle hingen sie an seinen Lippen – die sich derweil kaum bewegten. Denn wenn er sprach, dann flüsterte er.