piwik no script img

Das Ohr des Ministers

■ Jenseits der Stille von Caroline Link zeigt keine gottvergessenen Kinder

Ein Film, ein deutscher noch dazu, gar einer über Behinderte, der selbst hartgesottene Filmzerreißer zum Schwärmen bringt. Das macht mißtrauisch. Aber Jenseits der Stille von Caroline Link ist ein wunderbarer, poetischer Film. Er enthält warme Bilder, echte, lebendige Menschen mit eigener Geschichte und Struktur.

Die Hauptfiguren: Lara (als Achtjährige von Tatjana Trieb, als Heranwachsende von Sylvie Testud gespielt), ihre Eltern Kai (Emmanuelle Laborit) und Martin (Howie Seago).

Wir sehen sie aufs heftigste diskutieren, die Argumente fetzen, und dennoch ist es mäuschenstill. Was fliegt und flattert, sind die Hände. Eine geballte Faust, ein gestreckter Finger sind das höchste an Nachdrücklichkeit. Denn Martin und Kai sind taubstumm, Gebärdensprache ist ihre Verständigung. Ihre Tochter Lara dolmetscht für sie in der Welt draußen. Sie kann als einzige in der Familie hören und sprechen, ist Ohr für ihre Eltern und Außenminister der Familie.

Wie ein kleiner Derwisch hockt Lara unterm Fernseher und übersetzt ihrer Mutter das Liebesgeflüster des Hollywoodschinkens über ihrem Kopf.

Sie dolmetscht auf der Bank und in der Schule, wenn die Lehrerin sich über Laras nachlassende Leistungen beschwert. Natürlich manipuliert sie dabei kräftig, indem sie Beruhigendes in beide Richtungen lügt. Emmanuelle Laborit und Howie Seago sind beide selber taubstumm und gleichzeitig in Frankreich bzw. den USA große Theaterstars. Regisseurin Caroline Link hat in Los Angeles Theater und Universitäten für Taubstumme besucht und vieles über ihre Sprache, Kultur und Lebensweise gelernt.

Dank dieser genauen Kenntnis der Materie ist Jenseits der Stille frei von Rührseligkeit, von sogenannter Betroffenheit oder Mitleidsgesten. Der Film erzählt von der scheinbaren Unvereinbarkeit von Stille und Klang und davon, wie Lara sich ihren Zugang zur Musik erkämpft.

Ihre Tante Clarissa (Sibylle Canonica) wird wichtig auf diesem Weg, schenkt ihr eine Klarinette, bestärkt sie im Musizieren, auch wenn es ihrem Vater zuerst wie Verrat erscheint, und holt sie aus der Kleinstadt Berlin. Es geht um das Bemühen, einander zu verstehen und um die Grenzen, an die man stößt, um Geschwisterrollen, die bis ins Erwachsenenalter weiterwirken. Und es geht um die kleinen Schritte, mit denen man sich aus der elterlichen Erwartung löst und gleichzeitig um das Ringen nach deren Anerkennung für den eigenen Weg.

Unter Gehörlosen läuft dieser Prozeß nicht anders ab als anderswo, aber wir hören plötzlich intensiver hin.

Gisela Kruse

Abaton, Alabama, Holi, Studio

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen