: Das Lied des Bruno S.
Der Sänger Bruno Schleinstein hat in einem Film von Werner Herzog den Kaspar Hauser gespielt, einen verlassenen Jungen. Er selbst wuchs während der Nazizeit in Heimen auf – und lernte erst durch das Akkordeon, über das Erlebte zu sprechen
Zum 75. Geburtstag von Bruno S. am 2. Juni zeigt das Kino Babylon Mitte heute Abend um 20 Uhr Werner Herzogs 1974 gedrehten Film „Jeder für sich und Gott gegen alle“, mit Bruno S. als Kaspar Hauser. Bruno S. kommt darin der verlassenen Seele des 16-Jährigen Jungen ganz nah, weil es seine eigene Verlassenheit ist. Als Vorfilm läuft: „Vergangen Vergessen Vorüber“ von Jan Ralske, in dem Bruno S. ebenfalls mitspielt.
Anschließend gibt es ein Gespräch mit Bruno S. und seinen Freunden. WS
VON WALTRAUD SCHWAB
Manchmal kommt Bruno S. mit seinem Akkordeon in die Stadtklause am Anhalter Bahnhof. Dann packt er im engen Hinterzimmer vor dem Foto der Bahnhofsruine, wie sie nach dem Krieg im Winter da stand, sein Instrument aus, stellt den Koffer vor sich und legt sein kariertes Jackett darüber. Darauf arrangiert er Glocken.
Jede hat einen anderen Ton. Zwei Oktaven umfasst sein selbstgebasteltes Instrument, mit dem er die Moritaten und Volkslieder ebenfalls begleitet. Schnaufend hebt er an: „Ein Zigeuner verlässt seine Heimat. Er sucht in der Ferne sein Glück“. Schon nach diesen zwei Sätzen unterbricht er. „Ich dachte, es wäre besser, wenn es heißt: Ein Zigeuner verlor seine Heimat, weil er vertrieben wurde.“
Rau und erdig kommen die Töne aus seiner Kehle. „Ja, verlassen auf all seinen Wegen, zieht ein Zigeuner hinaus in die Welt.“ Es ist kein Singen, es ist Sprechen. „Denn er kennt weder Vater noch Mutter, seine Wiege stand draußen im Feld.“ Es ist kein Sprechen, es ist ein Versuch, den Worten zu befehlen, an der richtigen Stelle seinen Mund zu verlassen. Es ist Gesang, der wie kein anderer die Lücke zwischen Melodie und Schmerz offen lässt.
Warme Töne, Terzen können versöhnen durch ihren melodischen Gleichklang. Bei Bruno S. Gesang heilt nichts. Da bleibt jede Wunde eine Wunde. Er weiß, wovon er spricht, denn mit Verletzungen kennt er sich aus. „Alle Wunden heilen. Aber nicht alle. Die moralischen heilen nicht, die gebrandmarkten“, erklärt er.
Wie um sich selbst zu erlösen, singt er danach „Die Gedanken sind frei“. Nein, er singt es nicht. Er sagt es in Silben. Jede ist betont: Die Ge-Dan-Ken Sind Frei! Dazu gibt es Töne von den Instrumenten. Abgehackt wie die Worte auch. „Die Gedanken sind frei, und das wird immer wieder zum Vorschein kommen“, sagt er. „Das Lied hab ich 1945 kennengelernt, und seit dem Tag beschäftige ich mich mit diesem Lied.“
Der Gesang geht unter die Haut. Da ist einer, der berührt. Denn jeder Ton hat mit ihm zu tun, mit seiner Geschichte. Wie auch die Bilder, die er malt, nur seine Erinnerungen und Sehnsüchte spiegeln. Erst recht die Rollen, die er in verschiedenen Filmen spielte. Alles ist authentisch und pur. Denn Bruno S. trägt die Verletzungen, die sich in seine Seele eingebrannt haben, wie Eiterbeulen am Körper.
Bruno Schleinstein kommt am 2. Juni 1932 in Friedrichshain zur Welt. Ein Wegwerfkind. Eins, das der Mutter ungelegen kommt und dem Vater sowieso. Bruno S. wächst in Kinderheimen und psychiatrischen Einrichtungen auf. Solchen, die sich auf nationalsozialistische Menschenauslese verstehen. Der kleine Junge aus unehelichen Verhältnissen, stumm und eigen dazu, zählt nicht viel. „Er wurde im Heim nie besucht“, sagt Bruno S., der von sich in der dritten Person spricht. Dann wiederholt er noch einmal: „Der Bruno wurde nie besucht.“ Als ob nicht er, sondern ein anderer all diese Schmerzen erlitt, die Vernachlässigungen, auch die Gewalt.
In drei Dörfern habe er als Kind gelebt, erzählt er. „In Ketschendorf. Samariter waren das nicht.“ Dann kam Reinickendorf. „Wiesengrund.“ Das schöne Wort muss alles sagen. Während der Nazizeit, das ist bekannt, wurde in der dortigen psychiatrischen Heilanstalt an Kindern herumexperimentiert. „Die Punktierungen haben dem Bruno weh getan“, sagt er. Das dritte Dorf: „Zehlendorf, Claszeile 57.“ Dort war das „Haus Kinderschutz“. Bruno S. hat es nicht in guter Erinnerung. „Und dann diese Albträume.“
Aber Bruno S. hat eine große, innere Widerständigkeit. Sobald er kann, haut er ab. Einmal schafft er es bis zu seiner Mutter vor die Wohnungstür. Sie lässt ihn nicht ein. Er bleibt davor sitzen. Im Chaos nach dem Krieg reiht er sich in den Flüchtlingsstrom und landet in Süddeutschland bei Bauern. Später allerdings ist er wieder in Heimen. Zuletzt im Hufeland-Krankenhaus in Buch bei Berlin. Dort lernt er Akkordeon spielen. Mit dem Instrument findet er einen Weg aus der inneren Isolation, aus dem Verstummen heraus. 1956 wird er entlassen, lebt zuerst in Obdachlosenasylen, arbeitet auf dem Bau, wird Gabelstaplerfahrer. Später hat er eine eigene Wohnung in Schöneberg. In der Freizeit zieht er mit seinem Instrument als Moritatensänger durch Berlin.
Verbrieft sind all diese Informationen nicht. Freunde haben aufgeschrieben, was Bruno S. ihnen über lange Zeit erzählte. Franz Göbel von der Stadtklause am Anhalter Bahnhof ist ein Freund. Auch Klaus Theuerkauf von der Galerie Endart in der Oranienstraße ist ein Freund. Er versucht, das künstlerische Werk von Bruno S. zusammenzuhalten. Manchmal zeigt er Ausstellungen in der Galerie. Bruno braucht sehr lange für ein Bild. Er zieht Gitternetze, wenn er Skizzen ausarbeitet. Auf denen sind Operationsszenen zu sehen oder Dämonen und Monster. Im Stil naiver Malerei und der Art brut skizziert er Menschen, deren Gewalttätigkeit scheinbar zart, deren Zartheit brutal ist. Prügelnde Mütter kommen vor, Traumszenen und Albtraumszenen.
Bruno’s Freunde, das sind Menschen, die sich einmal tief berühren ließen von ihm. Sie haben Filme gesehen, in denen er mitspielte. Oder sie haben erlebt, wie er mit dem Akkordeon durch die Hinterhöfe zieht. Am liebsten mag er Höfe mit Mauern nach allen Seiten, die nur durch Fenster unterbrochen sind. In dieser Gefängnisatmosphäre singt er „Ein Zigeuner verlässt seine Heimat“. Oder das Kufsteinlied, das Wolgalied, „Das war in Schöneberg im Monat Mai“. Sein Repertoire hat sich über die Jahre verfestigt. „Ein Weihnachtslied kann auch ein Heimatlied sein“, sagt er.
Geadelt wurde Bruno S. von dem Regisseur Werner Herzog in den 70er-Jahren. Er ließ ihn den Kaspar Hauser im Film „Jeder für sich und Gott gegen alle“ spielen. Bruno S. spielt den 16-jährigen Hauser, Herkunft unbekannt, der jahrelang in Verliesen vor sich hin vegetierte, von keiner Menschenseele berührt. Einer, der vernachlässigt, geschunden und allein gelassen ist. Bruno S. kommt der verlassenen Seele des Kasper Hauser ganz nah, weil es seine eigene Verlassenheit ist.
Werner Herzog hat noch einen zweiten Film mit ihm gedreht. „Stroszek“ heißt er. Ein Mann wird aus dem Knast entlassen, trifft beim ersten Bier in der Kneipe auf Eva, eine alte Bekannte, Prostituierte, die gerade von ihrem Zuhälter geschlagen wird. Er nimmt sie auf. Zusammen mit ihr und dem Nachbarn versuchen sie ihr Glück in Amerika. Und scheitern.
Es gibt Menschen, wie Franz Göbel von der Stadtklause, die Bruno S. nie mehr vergessen konnten, nachdem sie diese Filme sahen. Irgendwann erkannte Göbel ihn Jahre danach auf der Potsdamer Straße. Dort kreuzten sich ihre Wege von da an oft. „Ich traute mich aber nicht, ihn anzusprechen“, sagt Göbel. Dann sah er ihn nicht mehr. Denn Bruno S. hatte einen Zusammenbruch. Alkohol. Als Göbel ihn Monate später doch wieder traf, traute er sich: „Gott sei Dank, Bruno, da sind Sie ja wieder. Sie leben.“ Seither sind sie Freunde. Bruno S. trinkt auch nicht mehr.
Bruno S. liebt es, wenn sich Menschen an ihn erinnern. Er mag die Aufmerksamkeit. „Was, Sie haben mich als Kaspar Hauser gesehen?“, fragt er. Dann will er wissen, ob man sich noch an die Zirkusszene im Film erinnert. An das Kamel, das auf den Vorderhufen abgeknickt rutscht, an den Bären mit dem Maulkorb, den Affen, der sich auf dem Pferd festkrallt, das Lama, das spuckt. „Es fängt mit Tieren an und hört mit Menschen auf“, sagt er. Denn alle diese Tiere stehen für das Kuriositätenkabinett, in dem auch Bruno S. als Kaspar Hauser im Film ausgestellt wird. Neben Menschen, die zu klein sind, um von einem Thron herunterzusteigen, wie der Affe oder solchen, die nicht sprechen, wie der Bär. Die Szene mit den Tieren ist ihm die wichtigste. Sie steht für geschundene Kreatur.
Gefängnis in Stroszek, Verlies in Kasper Hauser, Kinderheim in Deutschland. Bruno S. trägt seine Erlebnisse auf der Haut. Sie beginnen 1932 vor 75 Jahren. Und hören 1956 nicht sofort auf. Seit 51 Jahren schleppt er die ersten 24 Jahre seines Lebens mit sich herum. Tut es weh, wenn Sie an die alten Geschichten denken? „Es macht mich naiv“, antwortet er. Die Erlebnisse aus seiner Kindheit und Jugend in den Heimen im Nazi-Deutschland und danach lassen ihn nicht los. Sie durchdringen alles. Der einzige Ausweg: Kunst. Die Bilder, die Lieder – und die Gedanken – die frei sind. „Das Lied ist für Menschen, die an zwei Orten sind. Wenn einer eingesperrt ist und doch draußen. Oder draußen und doch eingesperrt.“ Es gibt keine objektive Wahrheit, nur ein subjektive. Bruno S. lebt sie. Nichts sonst zählt.