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Das Kreuz mit dem Euro-Kreuz

Ein neues Wahlrecht gibt am 12. Juni Ausländern aus der EU zum ersten Mal die Chance, für Parteien ihres jeweiligen Wohnortes zu stimmen / Bund und Länder informieren zu spät  ■ Von Franco Foraci

„Wir haben alles im Griff.“ Oskar Rohde, der Leiter des Wahlamtes in Frankfurt am Main, erklärt mit Hingabe und durchaus augenzwinkerndem Bürokraten- Humor, welche Schritte die Metropole bereits unternommen hat, um den MigrantInnen die neuen Bestimmungen für die Europa-Wahl bekannt und die Teilnahme an selbiger schmackhaft zu machen. Worum sonst wenig Wirbel gemacht werden muß, gerät in diesen Tagen zur Nervenprobe: Die korrekte Vorbereitung einer eigentlich sehr „normalen“ Wahl. Eigentlich. Denn die EU-Wahl 1994 – um sie geht es – ist kein Urnengang wie jeder andere. Am 12. Juni dürfen erstmals Ausländer aus den EU-Mitgliedsstaaten, wenn sie es wollen, Mandatsträger von Parteien ihres Wohnortes entsenden.

Das geschieht in Erfüllung des Artikels 8 des Ende 1993 in Kraft getretenen Maastrichter Vertrages. Er macht die Einwohner der ehemaligen EG zu „Unionsbürgern“. In Deutschland hatten die Parlamentarier in Bundestag und Bundesrat offensichtlich keine Eile, das neue Europawahl-Gesetz zu verabschieden. Da es erst am 13. März in Kraft treten konnte, also genau drei Monate vor der Wahl(!), sind die kommunalen Wahlämter vor riesige verwaltungstechnische Probleme gestellt. Die über Jahrzehnte einstudierte Routine mit rein deutschen Wahlregistern ist dahin. In den Beamtenstuben muß umgedacht werden. Ob es in zwölf Wochen mithin gelingt, alle betroffenen MigrantInnen von dem geänderten Wahlrecht zu informieren, ist äußerst fraglich.

Praktisch bedeutet die Neufassung der Euro-Wahlnormen, daß Griechen in der Bundesrepublik zum Beispiel statt der PASOK die SPD wählen können, Italiener zusammen mit ihren deutschen Nachbarn im Wahlbüro um die Ecke ihr Votum für die CDU abgeben können und Engländer statt den Torys in der weit entfernten Heimat, eventuell einem Griechen auf der Liste der FDP ihre Stimme anvertrauen können. Auf jeden Fall werden alle hier lebenden 1,2 Millionen wahlberechtigten Ausländer aus EU-Staaten ihre Interessen als Einwanderer endlich mehr oder weniger direkt in die europapolitische Waagschale werfen können. Insofern ist der Superwahltag 12. Juni, an dem auch Kommunal- und Landtagswahlen in sechs Bundesländern stattfinden, ein ohne Überteibung herausragendes und richtungweisendes Ereignis auf unserem gesamten Kontinent.

Europa wächst politisch schneller zusammen, als der ihm böswillig verpaßte Ruf der „Rindfleischgemeinschaft“ (Edmund Stoiber, CSU-Ministerpräsident in Bayern) uns Glauben machen will. Daß sich die Presse den Neuregelungen im Euro-Wahlrecht nur in winzigen Meldungen gewidmet hat, ist schon erstaunlich. Die lediglich beiläufige Erwähnung dieser für die nach dem Blutsrecht verfaßte Staatlichkeit Deutschlands bahnbrechende Veränderung zeigt, daß noch niemand so richtig begriffen hat, welche Tragweite die Europawahl 1994 (und folgende) in der Außen- und Innenpolitik haben wird.

Schuld daran, daß die veröffentlichte Meinung dem Ganzen nicht genügend Aufmerksamkeit schenkt, ist die träge Bürokratie in Bonn. Längst hätten der Bundeswahlleiter und das Bundespresseamt initiativ werden können, um mit Faltblättern und regelmäßigen Anzeigen das spätere Wahlrecht bekannter zu machen. Denn das es kommen würde, war mit dem Inkrafttreten des Maastrichter Abkommens vorauszusehen. Statt dessen wartete man bis zur letzten Minute ab – bis die Gesetzesnovelle Anfang März auch den Bundesrat passiert hatte. So läuft die „Info-Kampagne“ der Bundesregierung über die Wahl und deren komplizierte bürokratische Verfahren in Deutschland erst Mitte April an. Dann werden 20 Tonnen Papier in 1,4 Millionen neunsprachigen Faltblättern an Landesinnenministerien, Botschaften, Ausländerbeauftragte, den DGB und kirchliche Organisationen verteilt, die die Informationen an die richtigen Stellen weiterreichen sollen. „Der Zeitraum“, gibt Hans-Jürgen Wilke vom Bundespresseamt zu, „sei denkbar knapp bemessen. Aber wir werden es noch schaffen, alles über die Bühne zu bringen.“

Ozan Ceyhun, Europa-Kandidat auf der Liste von Bündnis 90/ Die Grünen glaubt, daß die Bundesregierung mit der Bekanntmachung des neuen Wahlgesetzes, „aus politischem Kalkül“ heraus so spät begonnen hat. Die daraus resultierende geringe Wahlbeteiligung soll dazu mißbraucht werden zu sagen: „Seht ihr, die MigrantInnen sind gar nicht an einer politischen Beteiligung interessiert.“ Diese Rechnung werde „leider aufgehen“.

Viel schwerer als die verspätete Information wiegt jedoch, daß den bundesdeutschen EU-AusländerInnen ein höchst kompliziertes Wahlverfahren zugemutet wird. Gewählt werden darf nur einmal, entweder im Heimat- oder im Aufenthaltsland. Wer in Deutschland wählen will, muß zeitraubende und zum Teil komplizierte Hürden nehmen. Da wäre zuerst der Antrag. Niemand wird automatisch in das hiesige Wählerregister aufgenommen. Man kann sich dort nur eintragen lassen, wenn man einen formgerechten Antrag stellt und eine bestimmte Frist einhält. Zum Antrag muß man sich vom örtlichen Wahlamt zuerst einen Formularbogen schicken lassen, den man ausfüllen und bis spätestens 9. Mai um 16 Uhr persönlich oder schriftlich einreichen kann. Eine eidesstattliche Erklärung soll dazu dienen, zu verhindern, daß jemand tatsächlich zweimal wählt.

Ist man hier im Wählerverzeichnis aufgenommen, werden die jeweiligen Behörden in Spanien, Portugal, Italien etc. per deutscher Durchschrift des Antrags angewiesen, den eigenen Namen aus den dortigen Registern für diesen Urnengang zu streichen. Auch die Konsulate bekommen das Dokument in Kopie. „Wir wären aber überfordert, noch einmal bei allen Gemeinden nachzufragen, ob das auch wirklich passiert ist“, sagt Oskar Rohde vom Frankfurter Wahlamt.

Die Bestätigung der Aufnahme erfolgt durch eine Wahlbenachrichtigungskarte, auf deren Rückseite auch Briefwahlunterlagen angefordert werden können. Besonders für Spanier eine interessante Möglichkeit: dort sind am 12. Juni auch Kommunalwahlen.

So weit, so schlecht. Wer mit dem ausgeprägten Amtsdeutsch des Formulars nicht zurechtkommt, hat in vielen Städten und Gemeinden das Nachsehen. Das Ding gibt es nur auf deutsch. Die Stadt Frankfurt ging wieder einmal mit gutem Beispiel voran und verschickt seit Anfang der Woche in Eigeninitiative mehrsprachige Merkzettel dazu, die der Kölner Städtetag zur Information auch an seine Mitglieder versandt hat. Was die allerdings daraus machen, ist deren Sache. „Sie, mit dr Wahl ham' wir uns noch gar net' beschäftigt. Di is' doch erst im Juni, irgendwann. Außerdem kann i' mir garnet' vorstellen, das wir in ausländisch informieren, das haben wir bisher nie gemacht“, antwortete ein sonst sehr freundlicher junger Herr im Wahlamt einer oberbayerischen Stadt auf Anfrage. Sein lapidarer Kommentar zum Angebot des Städtetags: „Naa, unmöglich! Zumal wir Kopierkosten sparen missen.“ In Eichstätt stoibert es europäisch-katholisch.

Freud und Leid – sagt der deutsche Volksmund – liegen eng beeinander. So sehr der Maastrichter Vertrag der multikulturellen Sache stückchenweise Segen zu bringen scheint, so radikal schafft es andererseits absurde, harte Wirklichkeit, die ihr auf dem ersten und zweiten Blick widerspricht. Das neue Euro-Wahlrecht institutionalisiert nämlich die bei vielen mitgedachte Trennung zwischen den „guten“ (EU-)AusländerInnen und „schlechten“ (nichteuropäischen) MigrantInnen. Wenn ein Grieche aus den Peleponnes, der kaum deutsch spricht, drei Monate Aufenthalt in der Bundesrepublik nachweisen kann, wird er in seinem deutschen Wohnort zur EU- Wahl zugelassen. Ein Marokkaner, der hier aufgewachsen ist; ein Inder, der in der Uni seit Jahrzehnten Germanistik lehrt, und eine Türkin, die hier geboren wurde, genießen dieses Privileg nicht. Euro-Apartheid an der Wahlurne. Die EU-Regierungen hätten diese europäischen Bürger bei der Neufassung des Wahlrechts mitberücksichtigen müssen. Doch sie hatten Angst vor der eigenen Courage und den Zorn des ominösen „Wahlvolks“. Festung Europa, Teil zwei.

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