: Das Kreuz des Kommissars
Nach „La vie de Jésus“ hat Bruno Dumont wieder einen radikalen Film gedreht: Der Cannes-Gewinner „L’Humanité“ entwirft die Bedingung der Möglichkeit einer Antwort auf das Böse
von CLAUDIA LENSSEN
In der oberen Bildhälfte, wo der Wiesenhang an den dunstigen Himmel stößt, ein Mann, der voll Schrecken und Grausen vor etwas wegzurennen scheint. Sein Atem ist ganz nah zu hören. Dann die Beine des Läufers, wie sie über Erdschollen hetzen, lautes Schreien, schließlich ein Sturz und Stille, wenn er das Gesicht in die Erde gedrückt hält. Das dauert, und schon mit diesem Auftakt ist ein Ton angeschlagen, der direkt ins Herz geht, weil er einen von den Spielregeln des konventionellen Kinos freisetzt.
Der Mann ist Polizeikommissar – er wird, an seinem Auto angelangt, zu einem Tatort gerufen. Ein Mädchen ist ermordet worden. Der Film erzählt von der Tätersuche, und doch bleibt nach den ersten Bildern verzweifelter Einsamkeit der Eindruck haften, der Kommissar sei in einer besonderen, unsagbaren Weise involviert. Ist er Tatzeuge, Schuldiger, Leidtragender?
Bruno Dumont, Autor und Regisseur von „L’Humanité“, betrügt sein Publikum nicht um die Spannung, die ein Wer-war’s-Spiel auslöst. Er spinnt den roten Faden, bis der Mörder am Ende in Handschellen auf dem Kommissariat sitzt. Aber er verschiebt die Spannung, bleibt nah bei dem Kommissar, auch in dessen persönlichster Sphäre, zeigt, wie das Skandalöse, Entsetzliche des Sexualmordes nur scheinbar im lethargischen Provinzalltag versickert, in Wahrheit jedoch etwas Anderes offenbart.
Dieses Andere ist in der Person des Kommissars real, aber es ist schwerlich auf den Begriff zu bringen. Es ist eine Wahrheit, wie nur Filme sie erzählen: unmittelbar evident – im Ausdruck des Gesichts, in der Körperhaltung, der Stimme – und doch visionär, denn Absicht, Botschaft, Fingerzeig, Hoffnungsschimmer des Autors teilen sich in den ausgesuchten filmischen Mitteln, der Nahtstelle zwischen Kunst und Leben, mit.
Jeder Taktschlag der langsamen Erzählweise zieht einen in Bilder hinein, in denen auf ein Verbrechen keine lärmende Betriebsamkeit, auf die Brutalität des Mörders nicht die der Aufklärer folgt. Ein Film ohne Feindbilder. Dumont ist nicht vom Bösen fasziniert, sondern von dem, was die Antwort darauf sein könnte. Er entwirft die Bedingung der Möglichkeit einer Antwort auf das Böse, indem er genau hinschaut. Er zeigt einen sensiblen Mann, keinen Bullen, einen, der sich das Leid aufs eigene Kreuz zu laden scheint, der dagegen anschreit, der zu besonderen Gesten des Trostes fähig ist. Ja, Kommissar Pharaon de Winter wirkt wie ein Depp, ein Idiot des Dorfs, aber im Lauf der eigentümlichen Zeitlichkeit des Films verliert er jegliche Lächerlichkeit.
Pharaon de Winter trägt den pompösen Namen, der auch auf seinem Straßenschild steht. Er ist einem flämischen Maler entlehnt, der am Schauplatz im französischen Provinznest Ballieu nahe der belgischen Grenze geboren wurde. De Winter malte Hände gut, notierte Dumont. Seinen Antihelden gibt er als Erben des Malers aus, lässt ihn einmal ein Bild in eine Ausstellung tragen und dort Szenen bürgerlichen Lebens und religiöser Einkehr betrachten. Ein kleines Mädchen mit selbstsicher übereinander geschlagenen Beinen fällt unter ihnen auf.
Die Wahlverwandtschaft zum Film ist offensichtlich. Einem Zeichner ähnlich, will sich Dumont auf die Linien konzentrieren, mit denen er durch sein Material unter die Oberfläche des Erzählten schauen kann. L’Humanité („Menschheit“) sind für Dumont ein paar Dickköpfe aus Ballieu, die den heißen, verschlafenen Sommer wartend vor ihren Häusern verbringen. „Menschlichkeit“, „menschliche Natur“ offenbaren sich in dem, was sie verbindet, trotz der Trostlosigkeit ihrer wechselseitigen Beziehungen.
De Winter (Emmanuel Schotté) ist ein Mann mit weichen Konturen, schleppender Stimme, melancholischen Augen. Wenn er einen Apfel isst, wirkt er brachial, wenn er mit seiner Küchenkittel-Mutter spricht, wie ein sanftes Kind. Rotz tropft ihm aus der Nase, wenn er seine sonntägliche rituelle Radtour unternimmt. Sein Atem ist der Grundton des Films, seine liebsten Tätigkeiten das Schauen und Riechen – de Winter schnuppert sich in die Nähe von Menschen.
In Domino (Séverine Caneele), die Nachbarin, ist er verliebt. Die junge Arbeiterin holt ihn zu Ausflügen mit ihrem Freund Joseph (Philippe Tullier) immer wieder hinzu. Sie ist wie alle Akteure keine gefällige Filmschönheit. Groß, kräftig, mit verschlossenem Gesicht strahlt sie eine gut geerdete Sinnlichkeit aus. Einmal steht sie allein am Meer im Schaum der hereinbrechenden Flut, als wäre das Panorama der englischen Küste in der Ferne nur für sie gemacht.
Es gibt viel unerlöste Sexualität in diesem Film. Domino wartet auf Joseph, de Winter wartet auf sie. Sie hat Lust auf Joseph und holt sich umstandslos, was sie braucht. Und doch fehlt etwas. Die Kamera beobachtet distanziert die freudlose Verausgabung der beiden. Fassungslos ist de Winter einmal Zeuge einer Kopulation, bei der Domino ihn wahrnimmt. Der Film verurteilt nicht, er zeigt und nimmt sich Zeit dafür. So entsteht in den Bildern eine Atmosphäre, in der Dominos Triebnatur und de Winters einsame Sinnlichkeit als Stärken bestehen.
Einmal gibt es eine Nahaufnahme von der Vagina und dem Meer schwarzer Haare zwischen ihren Schenkeln – ein lebendiges, pulsierendes Pendant zu jenem Schock am Anfang des Films, dem Bild des ermordeten Mädchens, das als Schock auf dem Film lastet. Man sah nur den Leib, die weiße Haut, die geöffneten Beine, die blutige Wunde der Vagina. Dumont zitiert Courbets lange tabuisiertes Gemälde „L’origine du monde“, zeigt den weiblichen Körper als Ort der Gewalt und der Liebe zum Leben.
„L’Humanité“ ist ein Film, der sich gegen alle systematischen Erklärungsversuche sperrt. De Winter bewahrt als der Zeuge und Mitleidende ein Geheimnis. Er ist zu Gesten der Nächstenliebe fähig, tröstet Täter und Opfer in dieser warmherzigen Elegie, dass man elementare Kraft aus diesem seltsamen Film mitnimmt, die lange nachwirkt.
„L’Humanité“. Regie: Bruno Dumont. Mit Emmanuel Schotté, Séverine Caneele, Philippe Tullier u. a. Frankreich 1999. 148 Min.
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