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Das Kino der Körper

■ Der französische Philosoph über den Schauspieler und Filmemacher John Cassavetes

Gilles Deleuze

Worauf es ankommt, ist nicht die Differenz der Pole, sondern der Übergang der Einstellungen und Haltungen zum „Gestus“. Brecht schuf diesen Begriff des weder auf die Intrige noch auf das „Subjekt“ reduzierbaren Gestus. Diesen Gestus erklärte er zum Wesen des Theaters.1

Was wir hier allgemein Gestus nennen, ist das Band oder die Verbindungsstelle zwischen den Haltungen, die Koordinierung jeder einzelnen mit der anderen, jedoch nur insofern, als dieses Band nicht von einer vorherigen Geschichte, einer zuvor existierenden Intrige oder einer sichtbaren Handlung abhängt. Ganz im Gegenteil, der Gestus ist die Entwicklung der Haltungen selbst und bewirkt so eine direkte Theatralisierung der Körper: eine Theatralisierung, die oft sehr diskret sein kann, da sie sich von jeglicher Rolle unabhängig macht.

Die Größe von Cassavetes‘ Oeuvre besteht gerade darin, daß es die Geschichte, die Intrige oder Handlung und selbst den Raum zum Verschwinden bringt, um zu Haltungen zu gelangen, Haltungen im Sinne von Kategorien, die die Zeit in den Körper versetzen und das Denken in das Leben. Wenn Cassavetes davon ausgeht, daß die Personen ihren Ausgangspunkt weder in der Geschichte noch in der Intrige haben dürfen, daß demgegenüber Geschichte von den Personen verschwiegen werden muß, faßt er darin die Forderung nach einem Kino der Körper zusammen: Die Person ist auf ihre eigenen körperlichen Haltungen reduziert, und aus der Reduktion folgt der Gestus, nämlich ein „Schauspiel“, eine Theatralisierung oder Dramatisierung.

Faces entwickelt sich aus Körperhaltungen, die wie Gesichtszüge, ja wie Grimassen erscheinen und die Erwartung, Erschöpfung, Haltlosigkeit und Niedergeschlagenheit ausdrücken. Ausgehend von den Verhaltensweisen der Schwarzen und der Weißen legt Shadows den sozialen Gestus offen, der sich um die Verhaltensweise des weißen Negers festmacht, der, geworfen in die Unmöglichkeit der Wahl, einsam ist bis an die Grenze der Selbstauflösung. Comolli spricht von einem Kino der Enthüllung (revelation), in dem die einzige Beschränkung diejenige der Körper und die einzige Logik diejenige der Verkettungen der Haltungen ist. Die Personen „konstituieren sich von Geste zu Geste und von Wort zu Wort und nach Maßgabe des Fortschreitens des Films produzieren sie sich selbst, insofern die Dreharbeiten sich wie ein Entwickler (revelateur) auf sie auswirken, jeder Fortlauf des Films ihnen eine erneute Entwicklung ihres Verhaltens gestattet und die Dauer dieser Entwicklung sehr präzise mit derjenigen des Films zusammenfällt“.2

In den folgenden Filmen kann sich der Schauplatz aus dem Drehbuch ergeben: Es erzählt weniger eine Geschichte, sondern entwickelt und transformiert körperliche Verhaltensweisen, wie in Frau unter Einfluß oder in Gloria, worin ein verlassenes Kind am Körper der Frau klebt, die zunächst versucht, es zurückzustoßen. In Love streams gibt es den Bruder und die Schwester: Er meint, nicht leben zu können ohne eine Anhäufung (amoncellement) weiblicher Körper; auch sie ist nicht dazu in der Lage, nur mit dem Unterschied, daß sie Gepäckstücke beziehungsweise Tiere anhäuft, die sie dem Bruder überreicht. Wie kann man leben, wenn man nicht in der Lage ist, für sich allein zu leben? Wie kann irgendetwas durch diese Körperbündel gelangen, die Hindernis sind und Mittel zugleich?

Jedesmal entsteht der Raum aufgrund dieser Anhäufung der Körper, Töchter, Gepäckstücke und Tiere, die alle auf der Suche nach einer „Strömung“ sind, die vom einen Körper zum anderen fließt. Aber die einsame Schwester überläßt sich ihrem Traum, während der Bruder in seiner Halluzination verharrt: eine hoffnungslose Geschichte.

In der Regel interessiert sich Cassavetes einzig für den die Körper hervorhebenden Raum; er komponiert den Raum aus den abgetrennten Teilen, die allein der Gestus wieder zu verbinden vermag. Es handelt sich hier um die formale Verkettung von Haltungen, welche die Vereinigung der Bilder ersetzt. Übersetzung aus dem Französische

von Klaus Englert

1 Brecht, Musique et gestus; in: Ecrits sur le theatre, Arche. Roland Barthes verfaßte zu diesem Text einen ausgezeichneten Kommentar (Diderot, Brecht, Eisenstein; in: L'obvie et l'obtus, Seuil): Das Thema von Mutter Courage kann sowohl der 30jährige Krieg als auch die Verurteilung des Krieges im allgemeinen sein, aber „ihr Gestus ist nicht einfach da“, das Thema liegt „in der Verblendung der Händlerin, die glaubt vom Krieg leben zu können und darin umkommt„; „es liegt in der kritischen Zurschaustellung der Geste“ bzw. in „der Koordinierung der Gesten“. Es handelt sich hier nicht um eine Zeremonie (leere Geste), wie Brecht sagt, sondern um eine Verwandlung der „landläufigsten, einfachsten und alltäglichsten Verhaltensweisen“ in eine Zeremonie. Barthes erläutert: Es ist - bei Brecht - der übertriebene Gestus, mit dem die Marketenderin das Geldstück prüft und - bei Eisenstein „der exzessive Graphismus, mit dem der Bürokrat der Generallinie seinen Wisch unterzeichnet“.

2 Comolli, 'Cahiers du cinema‘, no205, octobre 1968. Cassavetes sagt selbst, daß das Leben nicht ausreicht: Es bedarf eines „Schauspiels“, da allein das Schauspiel Schöpfung ist; doch das Schauspiel muß aus den lebendigen Personen entstehen, und nicht umgekehrt.

Aus: Gilles Deleuze, „Cinema2“, 'L'image-temps‘, Paris 1985.

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