: Das Haarspray von Woodstock
■ Freiheitsstatue mit Perücke: der Dokumentarfilm Wigstock fängt das New Yorker Festival mit geballter Transenpower ein
„Hallo, Herr Bürgermeister“, flötet Lady Bunny ins Telefon. „Wir feiern zum zehnten Mal das Wigstock-Festival. Es gibt Musik und Bühnenshows, wir tragen tolle Kleider und Perücken und fühlen uns gut. Ich wollte sie fragen, ob es vielleicht möglich wäre, für diesen einen Tag die Freiheitsstatue mit einer großen Perücke... Hallo?“ Nun ja, den Versuch war es immerhin wert.
Die New Yorker Galionsfigur mußte auch beim zehnten Geburtstag des Transen-Spektakels außen vor bleiben. Dafür war aber ein Kamerateam dabei, das das Fest der etwa 20.000 Paradiesvögel Anfang September 1994 am Christopher Street Pier dokumentierte. Mit der üblichen Verspätung können jetzt auch Hamburger Kinogänger bei Wigstock mitfeiern.
Filme abseits des Mainstreams haben es halt etwas schwerer. Es ist daher verständlich, daß bei der Präsentation von Wigstock – The Movie einige Seitenhiebe in Richtung Hollywood ausgeteilt wurden. Filme wie Tootsie oder Birdcage hätten mit der Realität nichts zu tun, behauptete etwa die charmante Conférencière Zazie bei der Preview im Abaton. Wigstock dagegen sei echt – als sei ein Film allein dadurch authentischer, weil er „Betroffene“ präsentiert. Dustin Hoffman mag zwar außerhalb des Filmstudios keine Drag Queen sein, dennoch zählt Tootsie zu den gelungensten filmischen Umsetzungen einer Transvestitenphantasie.
Derlei Abgrenzungen passen ohnehin nicht gut zu einem Festival, das die Toleranz ganz groß auf seine Fahnen geschrieben hat: Männer, die keinen BH tragen, sind bei Wigstock ebenso gern gesehen wie Transen, die sich nicht operieren lassen oder sogar ganz gewöhnliche Heteros (im Film „Brüter“ genannt). Den Vergleich mit Hollywood hat Wigstock auch überhaupt nicht nötig. Getrost darf er auf die geballte Transenpower vertrauen, die so wunderbar eingefangen wird.
Regisseur Barry Shils braucht nur wenige Takte Musik und ein paar Bilder, um Festival-Atmosphäre herbeizuzaubern. Man schnuppert einen Hauch von Woodstock, der allerdings nicht nach Joints, sondern nach Haarspray duftet. Wir schreiben die neunziger Jahre, da achten selbst Hippies auf eine gepflegte Frisur – und sei es die Zweitfrisur. Der Perückenkauf – einer der Höhepunkte bei der Vorbereitung auf das Ereignis – wird von Shils entsprechend ausführlich dokumentiert.
Die „Wigstock Dancers“ erlauben einen Blick in ihren Probenraum, und „Mistress Formica“ verrät das Geheimnis ihres phänomenalen Busens. Überhaupt, wenn „Mistress Formica“ vom Anbruch des Wassermann-Zeitalters singt, läßt das jeden sofort zum überzeugten New-Age-Anhänger werden. Und ihr rockiger Appell, für das Recht auf Anderssein zu kämpfen, hat soviel Kraft, daß man am Ausgang des Kampfes nicht mehr zweifeln kann. Superstar Ru Paul stößt ins gleiche Horn: „Haltet an eurem Traum fest. Wenn ich es schaffen konnte, kann jeder von euch es schaffen.“
Wigstock – The Movie ist eine Ermutigung, den eigenen Weg zu suchen und zu gehen, eine volle Tankladung geballter Energie für den zumeist weniger freudvollen Alltag. Er ist auch ein Anlaß, beim Kinobesuch mal wieder mehr auf Garderobe und Frisur zu achten und das Festival auf diese Weise von der Leinwand ein Stück weit in den Kinosaal hineinzutragen. Die Kraftspritze kann dadurch nur noch intensiver wirken. Besucher mit aufwendigen Perücken sollten allerdings Rücksicht auf die übrigen Zuschauer nehmen und sich nach hinten setzen.
Hans-Arthur Marsiske Abaton
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