crime scene : Das Fleischliche übt auf Kannibalen einen ganz eigenen Reiz aus, vor allem wenn sie Köche sind
Spannungsliteratur im üblichen Sinne ist es nicht, was Carlos Balmacedas in seinem Roman „Das Kochbuch des Kannibalen“, dessen deutscher Verlag ihn fürsorglich mit dem Untertitel „Ein kulinarischer Thriller“ versehen hat, abliefert. Doch der kleine Etikettenschwindel sei verziehen, denn spannend ist der Roman gleichwohl, und es gibt darin sogar eine beträchtliche Anzahl von Morden.
Ja, man kann geradezu froh sein, dass der Autor nach einem fulminant erschröcklichen Anfang, der mit ausgesuchtem Horror besticht, zu einer epischeren, viele Jahrzehnte in aller Ruhe umspannenden Erzählweise findet, um erst im letzten Drittel an die Ereignisse des Beginns anzuknüpfen. Der erste Satz ist die reine Provokation: „Als César Lombroso zum ersten Mal Menschenfleisch kostete – wobei es sich um das Fleisch seiner eigenen Mutter handelte –, war er sieben Monate alt.“ Das kurze erste Kapitel handelt von dem wohl am stärksten tabuisierten Verbrechen, das vorstellbar ist: einen anderen Menschen zu töten, um ihn zu verzehren. Und doch, das ist das eigentlich Bemerkenswerte, kann der geschilderte Fall nicht als Verbrechen angesehen werden, da der Täter nicht nur als vermindert schuldfähig angesehen werden muss, sondern das Stadium der absoluten Unschuld überhaupt noch nicht hinter sich lassen konnte, handelt es sich doch um ein Baby.
So werden gleich zu Beginn Ängste vor den verborgensten menschlichen Instinkten und Begierden geweckt, die der Autor anschließend kühl im Raum stehen lässt, um sich ungleich harmloseren Ereignissen zuzuwenden, die sich hundert Jahre zuvor zugetragen haben. Wir lesen von der Ankunft zweier italienischer Brüder im Argentinien des Jahres 1892. Erfahren, wie Luciano und Ludovico Cagliostro im Küstenort Mar del Plata regionale Berühmtheit als Meisterküche erlangen, um schließlich ihr Restaurant Almacén Buenos Aires zu eröffnen, das im Laufe der Zeit zu einer kulinarischen Legende werden soll, was die Brüder jedoch nicht mehr erleben werden, da beide binnen eines Jahres nach Restauranteröffnung sterben. Außer dem Lokal hinterlassen sie ein Konvolut von Rezepten, von den Erben später als „Handbuch der Südatlantischen Küche“ in Buchform herausgegeben.
Von der gedruckten Ausgabe werden sämtliche Exemplare im Laufe der Zeit verschwinden, so dass nur das Original in einer feuerfesten Kassette die Jahre überdauert und dafür sorgt, dass die kulinarische Kunst der Cagliostros über Generationen hinweg weiterentwickelt werden kann. Auch der junge César Lombroso, der uns zu Beginn des Romans unter recht speziellen Umständen begegnete, erweist sich als begnadeter Koch. Das Verhängnis, das wir Leser – als die einzigen, die die Wahrheit kennen – letztlich als Schicksal begreifen müssen, nimmt seinen Lauf, als César eine Affäre mit seiner verheirateten Tante beginnt.
Das alles wird erzählt mit jenem eleganten Gestus der poetischen Übertreibung, der in der Literatur Lateinamerikas oft besonders vollendet gehandhabt wird und gemeinhin als „magischer Realismus“ firmiert. Die epische Anlage des Generationenromans bricht Balmaceda kunstvoll auf, indem er keinen chronologischen Ablauf der Geschehnisse liefert, sondern scheinbar frei durch die Zeiten flottiert, ein facettenreiches und – für mit argentinischer Geschichte weniger Vertraute – historisch lehrreiches Erzählmosaik formend, das nachzuvollziehen durchaus erhöhte Aufmerksamkeit fordert. Kulinarisch ambitionierte Leser können die Geheimnisse der südatlantischen Küche mit Hilfe des beigelegten Rezeptheftes übrigens am eigenen Herd nachvollziehen. Doch das Lob der Kochkunst, das dieser Roman durchaus auch enthält, ist mehr als zweischneidig. Der empfindsame Leser jedenfalls wird nach seiner Lektüre wohl allen Fleischgerichten noch eine Zeit lang misstrauen.
Carlos Balmaceda: „Das Kochbuch des Kannibalen. Ein kulinarischer Thriller“. Aus dem Spanischen von Petra Zickmann. Piper, München 2007, 203 Seiten, 12 Euro