: Das Ende der Arbeitsgesellschaft?
■ 1993: Das Jahr mit der höchsten Arbeitslosigkeit in Deutschland
Berlin (taz) – Nie waren mehr Menschen ohne Arbeit als im Jahr 4 des wiedervereinigten Deutschlands. Dabei ist ein Ende der Entwicklung noch nicht abzusehen. Auch für 1994 prognostizieren die meisten Experten einen weiteren rapiden Stellenabbau – Arbeitsplätze, die selbst dann nicht wiederkommen, wenn das durch die deutsch-deutsche Vereinigung spezifische Wirtschaftstief überwunden ist. Selbst „blühende“ Industrielandschaften im Osten und eine neue Hochkonjunktur im Westen können den Beschäftigungsabbau nicht mehr kompensieren. Nach jeder Rezession seit 1973 erhöhte sich die Sockelarbeitslosigkeit in Westdeutschland um eine Dreiviertelmillion. Für den größten Teil der vier Millionen Arbeitslosen im kommenden Jahr bedeutet das wenig Hoffnung auf einen Wiedereinstieg in einen Full-time-Job. Daß diese Entwicklung nicht nur hausgemacht, sondern ein allgemeines Phänomen der westlichen Industriegesellschaften ist, zeigen die Zahlen im europäischen Vergleich. Jeder neunte EU-Bürger ist ohne Job, 1995 werden nach Berechnungen der OECD 20 Millionen arbeitslos sein – rund 14 Prozent aller Westeuropäer im Erwerbsalter. Die Parolen der Bundesregierung, den „Standort Deutschland“ stärken und auf neues Wirtschaftswachstum hoffen, gehen am strukturellen Problem vorbei. Die entwickelte Industriegesellschaft bietet zukünftig immer weniger Arbeit an, als Arbeitskraft angeboten wird. Es sei denn, die Arbeitsgesellschaft wird anders organisiert. Abhilfe schaffen könnte vor allem der von Kanzler Kohl so denunzierte „kollektive Freizeitpark“: eine gerechtere Verteilung der Arbeit setzt eine kürzere Arbeitszeit (und in aller Regel weniger Geld) für alle voraus. Nicht von ungefähr hat die – eigentlich ganz pragmatisch gemeinte – Arbeitszeitverkürzung bei VW soviel Diskussionen provoziert und Phantasien freigesetzt. Plötzlich wird wieder an die Thesen des französischen Sozialwissenschaftlers André Gorz erinnert, der bereits vor zehn Jahren eine radikale Neuverteilung der Arbeit forderte.
Auch in Deutschland erinnert man sich daran, daß es bereits eine entwickelte Diskussion um die Zukunft der Arbeit gab. Das Reservoir neuer Impulse bei der Befreiung der Arbeit und Befreiung von der Arbeit (Oskar Negt) ist noch lange nicht ausgeschöpft. Das kommende Wahljahr bietet auch die Gelegenheit, solchen Impulsen nachzugehen. Das Jahresthema zur Arbeitslosigkeit Seite 3
Debattenbeitrag auf Seite 10
Foto: Paul Langrock/Zenit
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