: Das Drehbuch schreibt der Alltag
■ Dokumentarische Langzeitserie im ARD-Nachmittagsprogramm
Die „Wilmersdorfer Witwen“, jeder kennt sie, jeder meint sie zu kennen, seitdem sie im Musical Linie 1 ihre Stöcke herumwirbelten, die Röcke rafften und durch den Waggon tanzten. Sind sie wirklich so? Steinreich und steinalt, aber so knauserig, als müßten sie noch ein weiteres Jahrhundert überleben?
Frau Tomaschefski ist nur eine halbe Wilmersdorfer Witwe; Witwe zwar, aber ohne Ansehen, denn ihr Mann trug keine Gardeuniform, dieses Statussymbol der besseren Hälfte im Berliner Nobelkiez. Doch die 89jährige hat viel von der spritzigen Resolutheit der Offizierswitwen, und ihr verschmitzter Charme voller liebenswerter Eitelkeiten steigt noch, wenn sie hochoben auf einer schwindelerregend steilen Leiter Flurfenster putzt und dann anschließend im Wohnzimmer den Filmemachern Detlef Gumm und Hans-Georg Ullrich verkündet: „Ich denk‘ immer, ich werd‘ nicht alt.“ Nie war ein Dokumentarfilm so lebensnah.
Berlin - Ecke Bundesplatz will das Leben der Menschen am Bundesplatz verfolgen: nicht über ein paar Drehtage, nicht über ein Jahr, sondern bis ins nächste Jahrtausend. Daß das wohl mutigste Projekt des WDR so wirklichkeitsnah ausgefallen ist, liegt mit daran, daß Detlef Gumm und Hans -Georg Ullrich vorgeschlagen haben, für die Langzeitbeobachtung nicht irgendeinen Ort, Stadtteil oder Straßenzug im Bundesgebiet auszusuchen. Am Bundesplatz liegt das Büro der Dokumentarfilmer, von hier aus können sie direkt reagieren, ohne erst lange Anfahrtswege bewältigen zu müs- sen.
Wenn Fernsehfiktion zur neuen Realität wird, kann der Dokumentarfilm normalerweise abdanken. Die Chronik der bundesdeutschen Wohnzimmerschicksale steigert sich in der Lindenstraße zu einem Katastrophenalltag voller Ehekrisen, Suizide und Aids-Toten. Wo der ganz normale Wahnsinn zum Serienelend verkommt, muß der Dokumentarist das wahnsinnig Normale suchen. Erst im Blick auf das Unspektakuläre wird der Alltag wieder brisant. Der Komponist und Sänger, der für seinen Lebensunterhalt Grabreden hält, der schüchterne Post-Punk, der wegen seiner Haartracht angepöbelt wird und sich nur nachts auf die Straßen traut, der Schornsteinfeger, der als Freizeit-Bodybuilder von einer Tellerwäscherkarriere in L.A. träumt; alles Nachbarn am Bundesplatz, die eine Geschichte zu erzählen haben bescheidene Wahrheiten und kleine Fluchten.
Gumm und Ullrich verstehen es, diese Alltagsgeschichten so umzusetzen, daß nicht die Exotik des einen, die Schrulligkeit des anderen, die Inkonsequenz des Dritten entlarvt werden und die Zuschauer wie Spanner auf eine Peepshow der zwischenmenschlichen Verrücktheiten starren. Sie biedern sich aber auch nicht an, drücken nicht auf die Sozialfalldrüse, unentwegt Betroffenheit einklagend.
Selbst an gefährlichen Stellen bleiben Gumm und Ullrich zurückhaltend. Am Kameradschaftsabend der Elite -Fallschirmjäger brechen die „Unverbesserlichen“ in Tränen der Rührung aus: Erinnerungen an Einsatz und Entbehrung. Gesabber und Gebrabbel über Heldentod und die Schuld der Juden. Auf den Nazistammtisch folgen Bilder von einem anderen Anwohner am Bundesplatz. Schweigend steht der Schriftsteller Reimar Lenz vor der Gedächtniskirche. Bei einer Mahnwache gegen Aufrüstung und Krieg. Das ist Gumm/Ulrichs Kommentar auf die Hitler-Schwärmer. Mehr nicht. Und das ist genug.
Verstehen wollen die Dokumentaristen den Mikrokosmos im Kiez, aber Verstehen heißt nicht Einverständnis mit den Taten ihrer Protagonisten. Das ist der feine Unterschied, der die Langzeitserie heraushebt aus anderen Produktionen, die um Zustimmung betteln oder Skandale wittern und aufdecken wollen. Indem die Reihe nicht belehrt, lehrt sie viel über die uninszenierte Wirklichkeit. Und daß das Vordergründige nicht immer Aufschluß über das Innere gibt.
Frau Tomaschefski ist die wahre Wilmersdorfer Witwe. Ihre uneigennützige Pflegebereitschaft ist so uneigennützig nicht. In der dritten Folge steht sie vor einem Grab und beweint eine 90jährige Bekannte. Die Tränen gelten dem Geld, nicht der Dahingeschiedenen. Eigentlich sollte sie alles erben, die 13.000 Mark auf dem Sparkonto und eine hübsche Summe aus der Geldkassette in der Wohnung. Nun geht alles an den Nachlaßverwalter. So steht sie da, vor dem Grab, unschlüssig, ob sie die Blumen hinlegen soll oder lieber nicht - nach so viel Gram über die entgangene Erbschaft.
Christof Boy
Berlin - Ecke Bundesplatz, jeweils montags, dienstags, mittwochs und donnerstags von 15.30 bis 16 Uhr im ARD.
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