: Das Bild, das bleiben wird
„Remember that tackle“: In einem nur vermeintlich schlichten Tackling des Niederländers Frank de Boer am Brasilianer Ronaldo drückt sich das hohe Niveau der WM 1998 aus ■ Von Peter Unfried
Paris (taz) – Die Nachricht ist: Wenn dereinst die Klasse von 1998 zusammenkommen wird, um über ihre WM zu reden, werden die Zyniker in der Unterzahl sein. Damit ist natürlich nicht gemeint, daß es nicht Bedenklichkeiten aller Art gegeben hätte, die Grund genug dafür böten, das Ereignis negativ zu sehen. Es ist halt nur so: Nicht der Kartenbetrug, die Misorganisation, noch die seltsame Wahl von Blatter zum Fifa-Präsidenten und schon gar nicht Vogts werden in die kollektive Erinnerung der Welt eingehen. Und halbtotgeschlagene französische Polizisten und deutsche Totschlagargumente womöglich nicht einmal in die deutsche. Bleiben wird, man mag davon nichts halten: Fußball.
Wenn man es aber doch tut, kommt jetzt die gute Nachricht: Der Fußball war besser, als es manche befürchtet hatten. Die WM hatte ihre Momente.
Wenn man also über jene reden will, die von dieser Fußball-WM bleiben werden, wird man tatsächlich einige Stunden einplanen müssen, um wenigstens die allerbesten aus dem Halbfinalspiel zwischen Brasilien und Holland aufzuzählen.
Es war nicht das Spiel, in dem die einen einen Fehler machten und die anderen auch einen. Es stimmt, daß es deshalb 1:1 endete. Eigentlich war es das Spiel, in dem man nahezu alle Qualitäten finden konnte, die der Fußball von 1998 zu bieten hat – wenn er von den besten Fußballern gespielt wird.
Geradezu zwanghaft wird das Gespräch immer wieder zurückkehren müssen zu jenem Augenblick in der Verlängerung, als ein Verteidiger einen Stürmer abgrätschte. Das ist deshalb lustig, weil man jahrzehntelang nicht verstehen konnte, wie die class of 1970 immer von jener Defensivaktion schwärmen konnte, in der der englische Kapitän Bobby Moore dem Brasilianer Pelé den Ball weggrätschte. Und die Baddiel und Skinner in „Three Lions“ („Remember that tackle by Moore“) verewigt haben. Eine Grätsche?
Jetzt hat auch die Klasse von 1998 ihr Tackling, von dem sie mit wirklich leuchtenden Augen reden kann: Natürlich war auch das bloß eine Grätsche. Aber jetzt versteht man, was die von Moore bedeutete: Kluges, faires, niveauvolles Verteidigen gegen den Angreifer mit den größten Fähigkeiten von allen. Zwei große Teams und zwei große Individuen auf der Höhe ihrer Fähigkeiten und damit der des Weltfußballs.
Diesmal war der Verteidiger der niederländische Kapitän Frank de Boer, der Stürmer Ronaldo, und so kann man sagen, auch in diesem Duell drückte sich die Qualität aus, die diese WM hatte. Das war der brasilianische Konterfußball in seinen sparsam eingesetzten besten Momenten: Ronaldo mit dem Ball am Fuß und jeder Menge Raum vor sich, um ihn in Höchstgeschwindigkeit zu überwinden und klinisch zu erledigen, was zu erledigen war. Da aber war der niederländische Intelligenzfußball, der einen Innenverteidiger ausgebildet hat, der die klügsten Pässe spielen kann, aber daneben stark, schnell und geschult genug ist, den besten Stürmer der Welt aufzuhalten, wenn der nicht mehr aufzuhalten scheint. Aus dem Nirgendwo kam Bobby Moore, kam Frank de Boer, und keiner der beiden berührte etwas anderes – außer dem Ball.
Was de Boer betrifft, so ist er – ohne einem der drei zu nahe treten zu wollen – Kohler und Thon. Er vereint die Tugenden des Arbeiterfußballers mit dem Stil des Fußballästheten – er ist noch ein echter Summa-cum-laude-Absolvent der vom Niedergang bedrohten niederländischen Fußballuniversität. Auch Davor Šuker kam im Spiel um Platz drei an allen Niederländern vorbei – de Boer aber grätschte ihn ab, wie er es bei Ronaldo getan hatte.
Als sich in diesem Halbfinale de Boer für einmal von Ronaldo weg und zu Roberto Carlos hinbewegte, spielte Rivaldo nicht nach links, sondern, wie es auch seine Aufgabe ist, in die Mitte – den Rivaldo-Ronaldo-Paß. Dort fand sich richtigerweise zwar der mit jeder Menge Spielintelligenz gesegnete Verteidiger-Vertreter Phillip Cocu ein. Der Kreativspieler hat aber nicht die Defensivqualitäten seines Kapitäns, eins zu eins gegen Ronaldo war er hilflos.
Es zeigt auch die Qualität, die Ronaldo während dieser WM demonstriert hat, da er diesen einen schwachen Punkt in Hollands Jeder-kann-alles-System ausnutzte. Es zeigt, wie Mario Zagallos vollkommen auf Ronaldo abgestimmte Defensivstrategie sich in wenigen, dafür beeindruckend logischen Momenten vollziehen konnte, wenn sich die besonderen Qualitäten der dafür vorgesehenen und deshalb von der Schweiß- und Fleißarbeit etwas entlasteten Spieler Ronaldo, Rivaldo und Roberto Carlos addierte. Zagallos Strategie mag man eindimensional nennen, weil sie sich auf die links geballten Kreativkräfte und ohne Rettungsanker auf Ronaldo verließ. Allein: Letztlich war sie konsequent und zwingend logisch.
Es spricht für das Niveau der WM, daß die besten Abwehrspieler nicht bloß dominiert haben, sondern eben auch durch Klasse aufgefallen sind, die auch ästhetische Kriterien erfüllt. Neben de Boer kann man die gesamte französische Abwehr und muß auf jeden Fall Lilian Thuram, Laurent Blanc und Marcel Desailly nennen.
Es hat sich auch gezeigt, daß Teams keine Chance hatten, die sich hauptsächlich über eine herausragende Qualität definierten, sei es die Verteidigung (Paraguay), der Sturm (Chile), die Organisation (Norwegen), der Glaube an die Überwindung eigener Unzulänglichkeiten (DFB). Den Deutschen half zudem auch ein guter Sturm nichts, den Italienern nicht die Verknüpfung von Organisation und guten Angreifern, den Argentiniern nicht einmal Organisation plus Angreifer plus Kreativspieler Ortega. Um ins Finale zu kommen, durfte man nur eine einzige Schwäche haben – sei es der Sturm Frankreichs oder die Innenverteidigung Brasiliens.
Es ist nicht der singuläre Geniestreich, der die besten Verteidiger aushebelt. Es braucht im permanenten Zustand der Hochgeschwindigkeit die pausenlose Arbeit an der Schwächung des Gegners – plus die organisierte Addition „genialer“ Fähigkeiten der schnellen, perfekt ausgebildeten und dabei zugleich kalkuliert und instinktiv vorgehenden Angriffsspieler zu einem perfekten Moment. Auf höchstem Niveau darf bei aller Geschwindigkeit auch keiner hektisch werden oder gar die Nerven verlieren wie Ortega, Beckham, Laurent Blanc oder die Holländer beim Elfmeterschießen. Oder einfach eben doch nicht gut genug sein wie Christian Wörns. Auch der tackelte oft, gern und gut. Aber als es galt, rammte er Šuker in den Boden. Das Bild davon ist aber jetzt bereits am Verblassen. In zwanzig Jahren aber werden die Leute noch summen: I remember that tackle by de Boer. Werden sie natürlich nicht. Aber sie sollten es tun.
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