: Das Ausbleiben des Ereignisses
■ Überlegungen zum Verhältnis von Leben und Werk des vor 100 Jahren geborenen Schöpfers der Pittura metafisica, Georgio de Chirico
Michael Kokoschka
In diesem Monat jährt sich zum 100. Mal der Geburtstag eines Malers, der schon zu Lebzeiten für tot erklärt wurde, obwohl er beteuerte, dreimal geboren zu sein: am 10.Juli 1888 im griechischen Volos, dem Hafen, von dem die Suche nach dem Goldenen Vlies ihren Ausgang genommen hatte, an einem klaren Herbstnachmittag des Jahres 1910 auf der Piazza Santa Croce in Florenz und an einem heißen Sommertag im Jahre 1919 in der Villa Borghese vor einem Gemälde Tizians.
Die erste Geburt setzte die Determinanten eines heimatlosen Lebens. Ein Eisenbahningenieur aus Palermo, dessen unverwundenen frühen Tod er in vielen seiner späteren Werke rückgängig zu machen versuchte, und eine adlige Genueserin, deren Dominanz aus vielen Doppelporträts spricht, warfen ihn im Land der Antike in eine Welt, der er zeitlebens vorwarf, nicht von gestern zu sein. Über den Tod seiner einzigen Schwester Adele und die etwa gleichzeitige Geburt seines unter dem Namen Alberto Savinio bekanntgewordenen Bruders weiß er in seinen Memoiren nichts zu berichten.
Seine zweite Geburt beschreibt er als Offenbarungserlebnis, das ihm mit 21 Jahren zuteil wurde. Es zeitigte unverwechselbare Bilder, die, scheinbar fernab von allen Traditionslinien, einschlugen wie Blitze aus einer anderen Dimension. Bilder, vor denen sich Breton und Apolinaire begeistert die Köpfe zerbrachen, die Max Ernst und Yves Tanguy auf den Weg brachten, die den kühlen Rene Magritte in de Chirico den größten Maler unserer Zeit sehen ließen, kurz, die ihn zum Vater des Surrealismus machten.
Sicher, heute hat sich die Wucht dieser Wirkung abgenutzt. Der Surrealismus wurde von der Kritik erledigt (Adorno), von der Kunst überholt, von der Trivialität korrumpiert. De Chiricos Visionen steigern als Umschlagsillustrationen in aller Welt offenbar besonders die Auflagen von Kafka und Camus. Mit diesen teilen sie die Grundstimmung des Unerlösten, eine Stimmung, die bei Camus als absurd reflektiert wird und die de Chirico das 'Metaphysische‘ getauft hat.
Diesen ehrwürdigen Terminus sollte man hier allerdings nicht philosophischer nehmen, als er vom Schöpfer der „Pittura metafisica“ gemeint war. Denn obwohl er sich gern und häufig auf Nietzsche berief und viele Passagen seiner verbalen Selbstdarstellungen von der Hybris des Ecce-homo -Tons getragen sind, scheint es doch mehr die „Stimmung“ dieses Wort zitiert er gern auf Deutsch - zu sein, die ihn am Werk des nihilistischen Philosophen beeindruckt, als der gedankliche Gehalt. Tatsächlich ist er der Meinung, daß sein Offenbarungserlebnis die Wiederholung eines Eindrucks ist, den er zuvor bei der Lektüre Nietzsches hatte. Dennoch ist es möglich, daß de Chirico eine Interpretation akzeptiert hätte, die in seinen Bildern die Welt nach dem Verschwinden Gottes wiedererkennen will. Eine solche Formel läßt jedoch, so richtig sie sein mag, die Frage offen, wie sich die Erfahrung der transzendenten Obdachlosigkeit bei einem areligiösen Menschen lebensgeschichtlich vermittelt.
Was aber hat es dann mit diesem Offenbarungserlebnis auf sich? Was ist dieses 'Metaphysische‘? In seinen „Meditationen eines Malers“ schildert de Chirico es so: „Da hatte ich den befremdlichen Eindruck, diese Dinge zum ersten Male zu sehen. Die Komposition des Bildes stand mir auf einmal im Geiste vor Augen. Jedesmal, wenn ich das Bild heute betrachte, sehe ich auch jenen Augenblick wieder. Was damals geschah, kann ich nicht erklären; es bleibt Geheimnis.“
Auffällig, wie vehement er immer wieder jede Analyse seines Durchbrucherlebnisses zurückweist. „Nutzlos“, erklärt er, „nach dem Wie, Wann und Warum zu fragen“, er verdanke es „der Inspiration durch die Piazza Santa Croce“, es bleibt ein „Mysterium der Kreation“ und basta. Nun mag es für die Kraft eines Werkes unerheblich sein, was ein Künstler damit für sein Leben anfängt. Aber die Frage nach den Vermittlungen zwischen Leben und Werk wirft doch immer wieder ein faszinierendes Licht nicht nur auf das jeweilige Künstler-Individuum, sondern ebenso auf die Betrachter, auf uns. Hier lassen sich die Beschädigungen unseres Lebens exemplarisch studieren. Bereits ein Blick auf die persönlichen Umstände de Chiricos legen die Vermutung nahe, daß hier etwas im Spiel ist, das Alice Miller in ihrer letzten Veröffentlichung einen „gemiedenen Schlüssel“ genannt hat. Etwas also, das viel mehr mit dem Leben des Künstlers zu tun hat, als dieser offenbar selber ahnt. Da ist in den Memoiren seitenlang von tiefen Depressionen, von langwierigen Darmkrankheiten, von seltsamen Gefühlen wie dem, statt auf Straßenpflaster auf Baumwolle zu gehen, von vergeblichen Kuren und hilflosen Ärzten die Rede. Als ihm dann das Schlüsselbild der Pittura metafisica, das er „Das Rätsel eines Herbstnachmittages“ betitelte, erscheint, kommt es ihm so vor, als ob alles „im Zustand der Genesung sei, sogar der Marmor der Bauwerke und des Brunnens“. Gerade so, als löste sich etwas schmerzhaft Verdrängtes aus seiner somatischen Codierung und nähme - begleitet von einem 'metaphysischen‘ Gefühl - die Gestalt einer Bildvision an. Der Kunsthistoriker J. Thrall Soby hat das Gemälde mit einem zeitgenössischen Foto des Platzes verglichen und die Differenzen zwischen Realität und Halluzination analysiert. Die Fassade von Santa Croce wurde ins Klassische transformiert, hinter einer getreu reproduzierten Mauer wurden mitten in Florenz sowohl ein Schiff als auch ein Zug visioniert, das zentrale Denkmal Dantes wurde in eine enthauptete klassische Figur umgeformt, in deren Sockel de Chirico seine eigenen Initialen setzte. Zeichen der Selbstsetzung und Andeutungen möglicher Heimkehr.
Aber das Dante-Chirico-Denkmal wurde enthauptet. Was den bisherigen Böcklin-Epigonen schlagartig zum eigenen Stil befreite, konnte der Mensch für sein Leben nicht nutzen. Der künstlerische Durchbruch war nicht begleitet von einem menschlichen. Das Verdrängte blitzte auf und kristallisierte an der Schwelle zur Bewußtwerdung im Bild. Mit romantischem Künstlervokabular wird es daran gehindert, in den Bewußtseinsraum einzuströmen, die Leere gähnt auf den Bildern, die nun entstehen. Starr, geometrisch, wie eingefroren, keine Spur einer Handschrift, gemalt werden Momente vor dem Ereignis, Momente, in denen etwas geschehen könnte, müßte, etwas, das bedrohlich nahe zu sein scheint aber ausbleibt.
Genau darauf beruht auch die Wirkung dieser Bilder. Denn die spärlichen, aber suggestiv ausgewählten Fragmente der angedeuteten Geschichte fordern mit aller Macht eine sinnstiftende Ergänzung durch den Betrachter. Da aber dessen gedankliche Anstrengung keine Befriedigung findet, springt sein Unbewußtes ein und läßt sein Verdrängtes in die Bilder fluten, die dafür den freien Raum zur Verfügung stellen. Dabei werden alle einzelnen Elemente mit kinderbuchhafter Simplizität präsentiert: die Puff-Puff-Eisenbahnen hinter den roten Ziegel-für-Ziegel-Mauern unter den großen Tick -tack-Bahnhofsuhren usw. Gerade, weil die Einzelheiten keinen Erkennungsaufwand erfordern, wird die Energie des Betrachters auf die Suche nach einem bündelnden Bildgedanken geschickt und - greift ins Nichts. Wir erkennen Allervertrautestes wieder, aber, beim Logos, wo ist der Sinn?
Die psychische Bedeutung des metaphysischen Gefühls blieb verschlüsselt. Dem Vater des Surrealismus blieb, anders als vielen seiner ungeliebten Kinder, die Analyse des Unbewußten ein Buch mit sieben Siegeln. Er malte die Schwelle, die sie überschritten. Da ihm auch als Person die Aufhebung der Verdrängung nicht möglich war, konnte er die Darstellung seines Offenbarungserlebnisses nur noch variieren, noch vor Ablauf eines Jahrzehnts versiegte diese Quelle der Produktivität.
Doch da erlebte er 1919 eine zweite Wiedergeburt. Mit Kopierarbeiten in der Villa Borghes beschäftigt, vernimmt er plötzlich die Trompeten der Auferstehung, spürt den gleichen Wind wie am Tag seiner Geburt in Volos und weiß von nun an, was große Malerei ist - so die Schilderung in seinen Memoiren. Was sei „ein Gekritzel von Matisse, eine Schmiererei von Cezanne oder ein Irrsinn van Goghs“ gegen die Kunst der alten Meister! Es gelte, zur Tradition zurückzukehren, beglückt schildert er seine Entdeckung der alten handwerklichen Traktate, verflucht die Ölmalerei, fordert in einem programmatischen Essay die „Rückkehr zum Handwerk“. Die Surrealisten verstehen ihre Gallionsfigur nicht mehr, aber de Chirico erlebt die Auflösung der hartkonturierten kristallinen Malweise in eine fließendere freie Handschrift als „Rückkehr des verlorenen Sohnes“, so ein Titel von 1919. Das Vater-Motiv klingt jetzt auf allen Ebenen deutlicher an. Besonders unzensiert vielleicht in dem Prosatext „Ein Traum“ von 1924. „Vergeblich“, heißt es da, „kämpfe ich mit dem Mann der verschleierten, milden Augen. ... Der mir so im Traum erscheint, ist mein Vater. ... In der Angst dieser Vorstellung erwache ich...“ Hatte er in der metaphysischen Periode nur ein einziges Selbstporträt gemalt, auf dem bezeichnenderweise nur zwei Füße zu sehen sind, so häufen sich von nun an die gemalten Selbstbefragungen. Nicht nur daran läßt sich ablesen, wie fragil das hinter einer polemisch verteidigten Überlegenheitsfassade behauptete Selbstbewußtsein auch jetzt noch bleibt. Immer wieder auch malt er sich in Kostümen vergangener Jahrhunderte, und der Betrachter ertappt sich dabei, wie er nach Anzeichen von Ironie Ausschau hält, um das Gefühl von Peinlichkeit zu mildern. Kein Zweifel, dieser Mann will nur noch zurück. Starrsinnig schleudert er seine vernichtenden Blitze vom vermeintlichen Olymp der Klassik auf die Moderne hinunter, wird immer dialogunfähiger, isoliert sich in hybridem Trotz, vereinsamt.
Im Gegensatz zu vereinzelten Interpreten glaube ich nicht, daß dieses so früh beginnende Spätwerk noch der wahren Würdigung harre. Zu umstandslos verpflichtet es sich einem verflossenen handwerklich definierten Ideal. Zu rigoros sperrt es sich gegen die Erfahrungen der Moderne, als daß es aus solcher Opposition Impulse beziehen könnte. Weil de Chirico die Spannung zu den zeitgenössischen Erfahrungsweisen schlichtweg kappt, fällt sein Werk ins Schal-Epigonale. Ja, selbst sein eigenes Frühwerk scheint ihm nun so fremd geworden, daß er es jahrzehntelang wieder und wieder kopiert, geradeso, als hoffe er, das „Geheimnis eines Herbstnachmittages“ durch solche Wiederholungen doch noch zu lüften.
Die metaphysischen Werke hatten ihre Kraft ausschließlich aus der visionären Bildidee bezogen, malerisch waren sie reizlos, wie später die Werke seines Nachfolgers Magritte. Das auf handwerkliche Meisterschaft erpichte Spätwerk wiederum bleibt, von keiner Vision getragen, hohl. Darin besteht die Tragik de Chiricos, daß er in dem Moment, in dem er sich malerisch und emotional aus der metaphysischen Erstarrung zu befreien versuchte, künstlerisch verflachte. Er war seiner eigenen Vision nicht gewachsen, das Verdrängte blieb verdrängt. Hätte er den Schlüssel, der sich ihm auf der Piazza Santa Croce bot, ergriffen, wäre er zu den verschütteten Gefühlen seiner Kindheit durchgebrochen. Sein Leben wäre reicher geworden, unseres aber um die Erfahrung seiner Bilder ärmer.
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