: Das Anti-Dschungelbuch
■ Nepal Lodh ist Sozialwissenschaftler, Yoga-Lehrer und Schriftsteller. Jetzt hat der in Bremen lebende Inder einen Roman geschrieben: Er erzählt von der „Reinen Liebe“ und heißt auch so
„Das Konzept im Kopf war schon da, die Schwierigkeit war, es zu formulieren ...“ Es ist eine dieser Antworten, bei denen die eigene Frage einem ziemlich blöd vorkommt. Sich Zeit zu nehmen und zu beginnen mit dem Schreiben, das sei wichtig, fährt Nepal Lodh fort. Er ist bestimmt einer der ruhigsten Menschen, die mir je in einem Café gegenüber saßen. Und das nicht, weil er nichts sagen würde. Die Frage, die ich nach einem längeren Gespräch über Deutschland und Indien, über Politik und Kunst, über kulturelle Differenzen und ob es die gibt, gestellt habe, lautete: Und wie kommt es dann zum Text?
Nepal Lodh ist ein nachdenklicher Mensch, gewiss kein Anhänger irgendeiner späten Form surrealistischer écriture automatique. Er will etwas sagen, vermitteln in seinem Roman. Ganz klassisch. Der heißt „Sat Prem. Reine Liebe. Eine ungewöhnliche Sehnsucht nach Spiritualität und Freiheit“. Der Titel und das Cover – neben dem Text findet sich auf pflaumenblauem Hintergrund das Bild einer Sitar spielenden Frau, ein Licht, ein Buch, ein Pfau – weisen Lodhs Buch als typisch indisch aus. Und führten dazu, dass ich, allem Esoterischen zutiefst abhold, es gleich weglegen wollte. Das habe ich dann doch nicht gemacht. Warum, weiß ich nicht so recht. Vielleicht, weil mich eben alles interessiert, was in Bremen so geschrieben wird. Irgendwann merkte ich: So typisch indisch ist das gar nicht. Die „ungewöhnliche Sehnsucht“ könnte schließlich auch für Bildungs- und Entwicklungsromane über Wilhelm Meister oder Anton Reiser gelten.
Der Beginn. Ein Wald im Monsunregen, der gerade nachlässt. Ein Ehepaar aus dem Dorf Krishnapur besucht mit der kleinen Tochter die Schwiegereltern, um mit ihnen zusammen das Shivaratrifest zu feien. Müde von der Reise legt man sich zur Ruhe. „Das Kind wurde wach, als sich eine Schar Affen näherte. (...) Das Kind lächelte den Affen zu, besonders den Babys unter ihnen.“ Als die Eltern aufwachen, ist das Kind weg. Sie sind natürlich verzweifelt, doch können sie das Kind nicht finden. Eine „Dschungelbuch“-Paraphrase mit good und bad guys, Mensch und Natur und so weiter? Es hat den Anschein. Pfauen verteidigen das Kind gegen die Schlangen, ein Adler gegen die Geier. Doch bald entwickelt sich das Buch in einen Anti-Kipling. Ein Yogi findet das Mädchen. Er trägt es in den Ashram, überlegt, was mit dem Kind zu tun sei.
So der Einstieg. Lodh erzählt die Geschichte des Mädchens Sarasvati. Eine Odyssee, die es durch Indien führt und bis nach England. Eine Reise, auch durch verschiedene Religionen und Denkmodelle. Gewiss ist der Handlungsverlauf, sind spirituelle und politische Auseinandersetzungen, die durch Begegnungen allegorisch gefasst werden, geprägt vom Hinduismus. Allerdings ist der Blick kein traditionalistischer, gar idealisierender. Differenzen werden nicht verschwiegen. Nicht da, wo die Kommunizierbarkeit von Religionssystemen an Grenzen stößt, nicht dort, wo soziale Realität der pantheistischen Utopie widerspricht. Nicht zufällig hat Lodh sich eine Protagonistin gewählt. Frauen seien unterrepräsentiert, sagt er, eine kritikwürdige Sache, ebenso wie das Kastensystem. Nichts wird als gottgegeben, unveränderbar hingenommen. Soziale Strukturen müssen auf den Prüfstand. Spiritualität und Religion erscheinen bei Lodh als ein möglicher Weg. Was Sarasvati tatsächlich tut, ist Sozialarbeit. Altruismus als Lebensprinzip, das so begründet sein kann. Aber auch anders.
Zugleich aber ist „Sat Prem“ ein Buch über die jüngste Geschichte Indiens, was bedeutet, dass es zugleich von europäischer Kolonialgeschichte handelt. Vieles, was er beschreibt, ist geprägt von den Erzählungen in seiner Familie. Mündliche Überlieferung findet hier ihre schriftliche Form. Ohne dass der Autor Schriftlichkeit und Mündlichkeit hierarchisch ordnen will. Er hat das Buch auf Deutsch geschrieben. Für ihn, der Anfang der 60er in die Bundesrepublik kam, auch eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Lebenswelten.
Das Prinzip der Gewaltlosigkeit, wie man es bei Gandhis Bemühungen um Unabhängigkeit findet, spielt nicht zufällig eine große Rolle. Ihm stand Lodhs Familie nah. Die Bemerkung, dass es so gewaltlos derzeit in Indien nicht zugeht, kontert er mit dem Begriff vom politisch-ökonomischen Schachspiel. Vieles, was heute eskaliert, seien keine genuin indischen Probleme, sondern künstliche Konflikte, die Spätfolgen der britischen Kolonialpolitik seien. Etwa die Trennung der Bevölkerung vom rechtsstaalichen Prinzip, der Weigerung, Modernisierung da zu betreiben, wo es den Menschen nützt. Auch wenn Nepal Lodh deutlich Position bezieht, bleibt vieles brüchig, uneindeutig. Zu Recht. Denn der Wille zur absoluten Wahrheit liegt ihm fern. Ein sympathisch undogmatischer Zug liegt in seiner Redeweise, der es einfach macht, mit ihm über Unterschiede (und über diese hinweg) zu reden. Denn die finden sich in seiner Biografie auch. Er ist in Bremen wie in Indien mal fremd, mal zu Hause. Er ist zugleich Yogameister und Sozialwissenschaftler. Und er ist ein ungewöhnlicher Schriftsteller. Auch wenn das nicht sein Hauptberuf ist.
Tim Schomacker
„Sat Prem. Reine Liebe“ erschien in diesem Jahr bei Sujet Druck & Verlag in Bremen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen