: „Dann hat es mich gepackt“
■ Interview mit Manfred Schulze, 44, Souvenirverkäufer beim 1991 gegründeten Verein „Historische S-Bahn Berlin“, im Bahnhof Köpenick
taz: „75 Jahre S-Bahn Berlin elektrisch“ – ist das nicht ein etwas bemühtes Jubiläum? Die S-Bahn gabs doch schon vorher?
Manfred Schulze: Das ist ein echtes Jubiläum, denn vor der Elektrisierung war das ja gar keine richtige S-Bahn. Die fuhren ja noch mit Dampfloks.
Aber die Berliner S-Bahn ist doch am Ende eine Stadtbahn wie in anderen Städten auch, oder?
Keine andere Stadt in Deutschland hat so ein großes Netz, und nur in Hamburg läuft die Stromschiene noch an den Gleiskörpern entlang. Dampfloks kann man heute ja nicht mehr benutzen, wegen der Umweltverschmutzung und weil sie anfälliger sind. Außerdem wäre ein Minutentakt wie bei der elektrischen S-Bahn nicht möglich. Der Zugführer steigt bei ihr nach Fahrtende an einem Ende aus, steigt hinten wieder ein und kann weiterfahren.
Warum kaufen denn Leute Postkarten von S-Bahnen?Die sehen doch alle gleich aus.
Nicht ganz – nur die neuesten. Die Fahrerabteile der alten sind ganz unterschiedlich, die Fenster haben sich verändert: Früher gab es vorne drei schmale zum Rausgucken, jetzt sind es zwei große.
Was verkaufen Sie in Ihrem Laden denn am besten?
Alte Strecken- und Gleispläne aus den 30er, 40er Jahren. Die Käufer sind meist ältere Herrschaften, die die Zeit noch miterlebt haben.
Was machen die denn mit den Streckenplänen? Lernen Sie die auswendig?
Nein, aber es ist eine schöne Erinnerung. Da kann man den Kindern und Enkeln zeigen, wo man früher langgefahren ist. Damals waren die Strecken noch nach den Endpunkten benannt.
Sind die S-Bahn-Fans eine große Familie?
Ja, wir treffen uns immer im Sonderzug, einmal im Monat.
Worüber reden Sie da?
Welche alten Modelle man gesehen hat und wo man was zum ersten Mal fotografiert hat. Manche kennen sich sehr gut aus: Die kennen alle Typenbezeichnungen, noch aus dem Jahre 1933.
Haben Sie zu Hause auch S-Bahn-Souvenirs?
Nein, ich bin nicht so'n Sammelfreak, ich habe nur ein paar Bücher. Ich habe auch nicht so viel Platz.
Haben Sie auch bei der S-Bahn gearbeitet?
Nein, ich bin Zivilist. Früher bin ich selten S-Bahn gefahren, weil ich in West-Berlin gelebt habe. Erst nach dem Mauerfall habe ich angefangen, mich dafür zu interessieren.
Dann hat es Sie gepackt?
Dann hats mich gepackt. Ich habe Fotos gemacht und mich mit meiner S-Bahn-Clicque getroffen.
Sind Ihre Freunde alles S-Bahn-Fans?
Alle meine festen Freunde habe ich bei einer Dampflok-Sonderveranstaltung vor ein paar Jahren kennengelernt.
Was interessiert Sie beim großen S-Bahn-Fest am Wochenende am meisten?
Unser „Tradizug“, die alte Stadtbahn BR 475, die alte Baureihe 165 von 1930 mit einem Mittelscheinwerfer und Schlusslaternen. Die sind, umgebaut, noch bis 1997 gefahren.
Warum interessiert Sie gerade dieser Zug?
Weil man die anderen ja öfters sieht.
Gibts die S-Bahn in 75 Jahren noch?
Rechne ich schon damit. Aber dann in anderer Form.
Wie sieht die dann aus?
Windschnittiger wohl, mit neuen Farben.
Glauben Sie nicht, die alten Traditionsfarben Rot und Ocker werden noch 75 Jahre bestehen bleiben?
Ich hoffe doch. Immerhin spritzt man jetzt die ganz neuen S-Bahn-Wagen, die erst eineinhalb Jahre alt sind, in die alten Farben um, weil es zu viel Protest gab, als neue Farben ausprobiert wurden.
Interview: Philipp Gessler
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