: Dänemark darf aus den Maastrichter Verträgen aussteigen, um die Ratifizierung durch die dänische Bevölkerung zu sichern. Fauler Kompromiß bei der EG-Finanzplanung Aus Edinburgh Ralf Sotscheck
To be and not to be
Totgesagte leben länger: Nachdem die dänische Regierung auf dem Gipfeltreffen der Europäischen Gemeinschaft in Edinburgh weitreichende Ausstiegsklauseln durchsetzen konnte, befindet sich die EG weiterhin auf Schlingerkurs in Richtung Ratifizierung der Maastrichter Verträge.
Von der angestrebten Wirtschafts- und Währungsunion ist man allerdings weiter entfernt denn je. Dänemark, das pikanterweise im Januar die EG-Präsidentschaft übernimmt, hat sowohl der Währungsunion als auch der Verteidigungsgemeinschaft und der EG-Staatsbürgerschaft eine Absage erteilt, um das störrische Stimmvieh, das beim Referendum im Juni „nein“ zu Maastricht gesagt hatte, doch noch zu einem „Ja“ zu bewegen.
Der Beschluß ist bei Annahme durch das dänische Parlament „rechtlich bindend“, muß nach Ansicht der EG-Juristen jedoch von den anderen Mitgliedsländern nicht ratifiziert werden und vermeidet damit eine neue Welle von politischer Unsicherheit. Doch da ist sich selbst Bundeskanzler Helmut Kohl nicht sicher: „Lassen Sie das mal den Kinkel erzählen“, schob er seinem Außenminister die Verantwortung auf der abschließenden Pressekonferenz zu. „Der hat darin habilitiert.“
Kinkels dänischer Amtskollege Uffe Ellemann-Jensen triumphierte dagegen: „Wir haben alles bekommen, was wir gefordert haben.“ Er erwartet, daß beim zweiten Versuch, der im April oder Mai stattfinden soll, „mindestens 60 Prozent der Bevölkerung“ der bereinigten Fassung – in Abwandlung Shakespeares: „To be and not to be“ – zustimmen werden. Andernfalls sind Dänemarks Tage in der EG gezählt, wie auch Ellemann-Jensen einräumte. „Der Zug fährt auf alle Fälle weiter“, drohte Kohl unverblümt. Doch mit dem Ernstfall rechnet Ellemann- Jensen nicht. Er hat für die Euro- Gegner nur Geringschätzung übrig: „Laßt sie es doch versuchen.“
Um den Druck auf die dänischen WählerInnen zu verstärken, beschlossen die Regierungsvertreter, bereits Anfang Januar offizielle Beitrittsverhandlungen mit den übrigen skandinavischen Ländern und mit Österreich aufzunehmen. Die Gespräche dürften durch die dänische Nullösung nicht einfacher werden: Wenn das Nato-Mitglied Dänemark aus der Verteidigungsgemeinschaft aussteigen darf, kann man das den neutralen Antragstellern kaum verwehren.
Dem scheidenden EG-Präsidenten John Major gaben die Regierungsvertreter, allen voran Helmut Kohl, die Warnung mit auf den Weg, daß „unsere Geduld nicht unendlich“ sei: Großbritannien wurde eine Frist bis zum 30. Juni 1993 für die Ratifizierung der Maastrichter Verträge gesetzt. Falls Major bis dahin seine rebellischen Hinterbänkler wieder unter Kontrolle bringen kann, sollte das kein Problem sein, da sich die Labour Party der Stimme enthalten will.
Daß Majors von innenpolitischen Problemen überschattete EG-Präsidentschaft nicht zum völligen Desaster wurde, lag wohl eher an den niedrigen Erwartungen im Vorfeld des Gipfels als an der Geisterbeschwörung zum Auftakt. Major erzählte seinen Gästen die Legende vom Holyrood Palace, wo der Gipfel stattfand. Demnach soll der Gründer der ehemaligen Abtei, David I., im 12. Jh. von einem wütenden Hirsch angegriffen, aber in letzter Sekunde durch ein Kreuz zwischen dem Geweih des Tieres gerettet worden sein.
Die Geschichte ist freilich ein Plagiat: Ihr Ursprung wird St. Hubert zugeschrieben – dem achten Bischof von Maastricht. Der Kompromiß über die mittelfristige Finanzierung der EG, auf den sich die Regierungsvertreter schließlich einigten, kam dagegen ohne göttliche Hilfe, aber erst nach mehr als zehn Stunden Nachsitzens zustande. Ohne eine Übereinkunft bei der Finanzierung wären auch sämtliche anderen Gipfel- Vereinbarungen hinfällig gewesen.
Vor allem Spanien als Wortführerin der vier ärmeren Mitgliedsländer – neben Spanien sind das Portugal, Griechenland und Irland – wollte das vom britischen Finanzminister Norman Lamont vorgeschlagene Billigpaket nicht hinnehmen. Demnach sollte die Obergrenze für die EG-Haushaltsmittel bis 1995 auf 1,2 Prozent des Bruttosozialprodukts eingefroren und bis 1999 auf 1,25 Prozent erhöht werden. Der französische Kommissionspräsident Jacques Delors plädierte dagegen für eine schrittweise Anhebung der Obergrenze auf 1,32 Prozent bis 1999. Besonders erbost war die spanische Regierung über das britische Ansinnen, die für Strukturpolitik zur Verfügung gestellten Haushaltsmittel nicht wie versprochen zu verdoppeln, sondern nur um 50 Prozent zu erhöhen. Zum Schluß habe man nach Kohls Einschätzung „einen soliden Kompromiß gefunden, der die Finanzierung für sieben Jahre sichert“. Tatsächlich handelt es sich dabei eher um einen faulen Kompromiß: Die Haushaltsmittel bleiben zwei Jahre unverändert und steigen dann bis 1999 stufenweise auf 1,27 Prozent des Bruttosozialprodukts. Der Kohäsionsfonds für die vier ärmeren Länder wird 1993 mit drei Milliarden Mark eingerichtet und steigt bis 1999 auf fünf Milliarden Mark jährlich an.
Das Delors-Paket, das eher den Namen „Lamont-Paket“ verdient, war selbst in seiner eingedampften Form den Briten zu generös. Britische Journalisten berichten, daß Major „fuchsteufelswild“ gewesen sei, weil die deutsche Regierung den spanischen Forderungen „Stück um Stück nachgegeben“ habe. Kohl tat das jedoch als Hirngespinste ab. Um die langfristige Finanzierung der EG zu sichern, stellte Delors in Edinburgh ein europaweites Konjunkturprogramm vor. Dabei stehen vor allem infrastrukturelle Verbesserungen, durch die nicht zuletzt die Verkehrsanbindung Osteuropas an die EG ausgebaut werden sollen, sowie die Förderung kleiner und mittelständischer Unternehmen im Vordergrund. Für diese „Wachstums-Initiative“ soll ein Investitionsfonds mit zehn Milliarden Mark ausgestattet werden. Weitere zehn Milliarden sollen der Privatwirtschaft entlockt werden. Genauso wichtig ist laut Kohl freilich „eine deutliche Zurückhaltung bei den Tarifabschlüssen im öffentlichen Dienst“.
Mitten in den Gipfel platzte die Nachricht von neuerlichen Turbulenzen auf den Geldmärkten. Die Bundesbank mußte eingreifen, um die dänische Krone, das irische Punt und vor allem den französischen Franc zu stützen. Die Finanzminister spielten das Problem in Edinburgh wieder einmal herunter. Über eine Reform des Europäischen Währungssystems (EWS) wurde nicht nachgedacht. Dabei wäre eine solche Reform längst überfällig: Das EWS, das 1979 als „System fester, aber anpassungsfähiger Wechselkurse“ eingeführt wurde, ist gescheitert, wie die inzwischen flexiblen Kurse beweisen.
Eine Maßnahme, mit der die EG-Institutionen kostenlos ihr Image aufbessern wollen, ist die „Bürgernähe“. Die soll durch zwei Prinzipien erreicht werden: einmal durch die Subsidiarität, mit der eine „Überregulierung“ durch die EG verhindert werden soll (siehe auch Seite 20). Kohl verwies auf die Vorschrift zur Haltung von Zoo-Tieren und die Regelung über Schuhgrößen. „Das sind elementare, abendländische Herausforderungen, die sich hier stellen“, meinte der Kanzler launig. Die Kommission hat eine Liste von 20 Punkten vorgelegt, die im nächsten Halbjahr stark erweitert werden soll. Zu befürchten ist, daß dann auch Umweltbestimmungen und Lebensmittelgesetze der EG-Kontrolle entzogen und dem Laissez-faire der Länder überlassen werden.
Der zweite Begriff in punkto Bürgernähe heißt Transparenz: „Mehr Informationen von besserer Qualität“, versprach der britische Pressesprecher Francis Cornish, schränkte jedoch sogleich ein: „Das ist etwas für die Zukunft.“ Bei den Gipfelberatungen in der schottischen Hauptstadt waren keine Kameras zugelassen, weil „sonst die wirklichen Diskussionen auf den Fluren stattfinden“, meinte Cornish.
Die geplante Euro-Bank konnte Kohl nicht, wie ursprünglich erhofft, für Bonn oder Frankfurt einkassieren. Die Entscheidung wurde bis Juni nächsten Jahres vertagt. Major ließ keinen Zweifel daran, daß er mit seiner Maastricht-Ratifizierung gleich einpacken könnte, wenn er zuvor dem Unterhaus gestehen müßte, daß London aus dem Rennen sei. Die Sitze der bestehenden EG-Institutionen, wie Parlament, Gerichtshöfe und Kommission, wurden dagegen endgültig bestätigt.
Einen Erfolg kann Kohl jedoch vorweisen: Die 18 Europa-ParlamentarierInnen aus den neuen Bundesländern, die bisher nur Beobachterstatus hatten, erhalten mit Beginn der nächsten Legislaturperiode volles Stimmrecht. Außerdem werden die neuen Bundesländer als „Ziel-eins-Gebiete“ eingestuft und erhalten Gelder aus dem Strukturfonds – zwischen 1994 und 1999 insgesamt 10 bis 14 Milliarden Ecu (20 bis 28 Milliarden Mark). Das stehe zwar in keinem Verhältnis zum Gesamtaufwand, sagte Kohl, doch er fügte hinzu: „Das ist auch nicht Aufgabe der EG, den Aufbau der neuen Bundesländer zu fördern. Das ist eine nationale Aufgabe.“
Ebenfalls nicht Sache der EG ist offenbar der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien. Neben einer neuerlichen Warnung an Serbien – „mit schärferen Nuancen“ (Kinkel) – beschlossen die Regierungsvertreter lediglich, eine Delegation nach Bosnien zu entsenden, um die „systematischen Verhaftungen und Vergewaltigungen moslemischer Frauen“ zu untersuchen. „Über irgendwelche militärischen Einsätze wurde nicht gesprochen, weil dann die Gefahr besteht, in einen Guerillakrieg hineingezogen zu werden“, sagte Kinkel. „Man könnte aber darüber nachdenken, ob eine totale Isolation Serbiens möglich ist.“ Der niederländische Außenminister Hans van den Broek wies auf die „himmelschreienden Verstöße gegen die Sanktionen durch Griechenland“ hin. Und Kinkel fügte hinzu: „Die griechische Seite ist sich bewußt, daß in dieser Hinsicht nichts mehr geschehen darf.“
Auch in der mazedonischen Frage hat der Gipfel nichts bewegt. Es ist nicht gelungen, die „unglückliche Namensfrage in den Griff“ zu bekommen, weil Griechenland sich nach wie vor weigert, „Mazedonien-Skopje“ anzuerkennen, solange das Land nicht das „Mazedonien“ aus seinem Namen streicht. Der griechische Premierminister Konstantin Mitsotakis war aus den noch laufenden Verhandlungen geeilt, um in einer Pressekonferenz seinen diplomatischen Erfolg zu vermelden. Entgegen anderslautenden Erklärungen niederländischer Diplomaten vom ersten Gipfeltag behauptete Mitsotakis, die „Solidarität der EG“ habe funktioniert: „Die Erklärung von Lissabon ist nicht aufgehoben worden.“ Dadurch seien die EG-Mitgliedsländer an eine gemeinsame Politik der Nichtanerkennung des neuen Landes gebunden. Kurz nach dieser Mitteilung fiel vor dem griechischen Presseraum die Stoffverkleidung von der Decke, der Raum mußte gesperrt werden. Der Geist von St. Hubert, dem Bischof von Maastricht? Die anderen Regierungschefs haben offenkundig einen Rückzieher gemacht. Slavica Waite vom „mazedonischen Informationsbüro“ in London sagte enttäuscht zur taz: „Das heißt wohl, daß wir auf die Anerkennung weiter warten müssen.“
In Sachen „Rassismus“ stahlen sich die Staats- und Regierungschefs mit einer Bekräftigung ihrer zahlreichen „antirassistischen Erklärungen“ aus der Verantwortung. Konkrete Schritte wurden auch in Edinburgh nicht vereinbart. Die von unabhängigen Experten erarbeitete europäische Antidiskriminierungsrichtlinie taucht im Edinburgher Abschlußdokument nicht auf. Statt dessen einigte man sich auf gemeinsame Maßnahmen zur Reduzierung von Einwanderung. Unkontrollierte Einwanderung, so heißt es, kann „destabilisierend“ wirken.
Bei den EG-Regierungsvertretern herrschte beim Abschluß des Gipfels am Samstag kurz vor Mitternacht dagegen eitel Freude. „Niemand hätte vor zehn Jahren gedacht, daß wir trotz aller Schwierigkeiten einen so langen Weg in so kurzer Zeit zurücklegen würden“, sagte Kohl. Er bedankte sich artig bei Gastgeber Major, dem ob des glimpflichen Gipfel-Ausgangs ein Stein vom Herzen gefallen war. Freilich mischten sich ein paar Wermutstropfen in die Erleichterung: Seine Pressekonferenz wurde immer wieder durch Zwischenrufe unterbrochen. Fünfzehn Mitglieder der Organisation „Action for Solidarity, Equality, Environment and Development“ (A SEED) aus zwölf Ländern hatten sich unter die JournalistInnen gemischt, um gegen den „Elite-Club EG“ zu protestieren. Sie wurden von der Polizei abgeführt.
Bereits am Samstag nachmittag hatten 25.000 Menschen für die schottische Unabhängigkeit demonstriert. Es war die größte Demonstration in der Geschichte der Stadt. Alex Salmond, der Vorsitzende der Schottischen Nationalen Partei, sagte bei der Abschlußkundgebung: „Wenn der Gipfel das nächste Mal in Edinburgh stattfindet, wird Schottland nicht der Kellner im Schottenrock sein. Dann werden wir als Gastgeber gleichberechtigt mit den anderen Nationen am Tisch sitzen.“
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