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Dämon auf dem Käsethron

 ■ Zu Simon Schamas Psychogramm der niederländischen Kultur

Von Hans Thomas Carstensen

„Wie sich ehemals für die beobachtenden Menschen, durch viele Irrwege und Sackgassen des Denkens hindurch, aus den einzelnen Naturbeobachtungen langsam eine geschlossenere Vision des Naturzusammenhangs heraushob, so beginnen sich allmählich in unserer Zeit die Fragmente der menschlichen Vergangenheit (...) zu einem geschlosseneren Bild des Geschichtszusammenhangs und des menschlichen Kosmos überhaupt zu ordnen. (...)

Ein scharf umrissenes Profil erhalten die vergangenen Wandlungen des gesellschaftlichen Gewebes für den Betrachter erst dann, wenn er sie mit den Ereignissen seiner eigenen Zeit zusammensieht. Auch hier, wie so oft, erhellt der Anblick des gegenwärtigen Geschehens das Verständnis des Vergangenen, und die Vertiefung in das, was geschehen ist, erhellt das, was geschieht.“ (Norbert Elias, Über den Proze

der Zivilisation

„Ich glaube, der Teufel scheißt Holländer!“ (Sir William Batten, britische

Marineminister, 1667

Ein Dandy, der im 17.Jahrhundert fast 60 Jahre lang durch die Weltgeschichte zog und darüber einen Reisebericht verfaßte, in dem er zum Beispiel berichtet, in der Werkstatt eines holländischen Dorfschmiedes ein Kunstwerk gesehen zu haben, mag uns ganz amüsant erscheinen. Wenn jedoch ein Historiker ein Buch schreibt, dem er vorausschickt, eigentlich genau den gleichen Abstrusitäten nachzujagen wie besagter Herumtreiber, so ruft das mit traumwandlerischer Sicherheit die geharnischte Kritik seiner Fachkollegen auf den Plan.

Die Rede ist von dem Engländer Simon Schama, über dessen Monumentalwerk zur Kultur der Niederlande die Historikerzunft momentan herzieht, als gälte es, den Teufel auszutreiben. Dabei kann man Schama beileibe keine Oberflächlichkeit vorwerfen. Brisant ist jedoch das Material, mit dem er Geschichte sinnlich nachvollziehbar macht, sowie seine Methodik, von der er selbst mit der ihm eigenen Ironie und im vollen Bewußtsein, damit seine Kollegen zur Raserei zu treiben, sagt: „Schamloser Eklektizismus war meine einzige methodische Richtschnur“ (S.20). Schama räumt freimütig ein, daß seine Leserschaft wenig über die Synode von Dordrecht oder die Statthalterschaft Willem von Oraniens, dafür aber alles über das Pfeiferauchen oder das Phänomen des Scheuerns von Bürgersteigen erfahren wird. Die Objekte seiner Begierde sind zum Beispiel konservierte Walfischaugen und billige Drucke, die als visuelle Quellen gleichberechtigt neben Zeugnissen der sogenannten Hochkultur stehen; kurzum, ihn interessieren „die äußerlichen und innerlichen Nippsachen, die eine Kultur ausmachen“ (S.11).

Wer sich, so vorgewarnt, auf sein Buch einläßt, den erwartet'auf 700 Seiten ausgebreitet, der verwirrend reiche Bilderbogen einer vergangenen Kultur; so prall und voller Leben, als könne man sie heute noch besuchen. Die Fülle und Vielfalt des Materials, das Schama dafür zusammengetragen hat, ist nicht Selbstzweck und bleibt nicht isoliert stehen, wie man dies neuerdings bei vielen computergestützten Arbeiten antrifft. Schama hat seine oftmals skurrilen Fundstücke kunstvoll zu einem Psychogramm der Mentalität eines Volkes verwoben, und so entsteht das komplexe Bild einer Gesellschaft mit ihren inneren Widersprüchen und Abgründen. Daher geht auch Peter Burkes Vorwurf der Ahistorizität in die Irre. Schama versucht das auszuloten und mit Leben zu erfüllen, was Emile Durkheim das kollektive, gemeinschaftliche Bewußtsein einer Gesellschaft genannt hat. „Eine schwer faßbare Beute“, wie Schama zugibt, die es „im eigenen Revier und in voller Aktion, nicht hingestreckt und ausgeweidet auf dem Seziertisch des Soziologen“ aufzuspüren gilt (S.21). Er geht dabei bewußt nicht chronologisch, sondern thematisch vor. In den einzelnen Kapiteln untersucht er nationale Identitätsfindung, die Eliten und die Außenseiter, Genußsucht und Bescheidenheit, die Stellung der Frau und die Welt der Kinder.

Wenn Schama von „den Holändern“ spricht, ist er sich durchaus der Gefahr dieser Generalisierung bewußt. Aber im 17.Jahrhundert hatte sich in Holland der „brede middenstand“ formiert - durchaus vergleichbar mit unseren postmodernen Zweidrittelgesellschaften -, dessen meiste Mitglieder „wohlgenährt und komfortabel untergebracht waren“ (S.16). Diese Saturiertheit, an der - mit sozialen Abstufungen breite Bevölkerungsschichten teilhatten, war weitgehend dem rücksichtslosen Profitstreben im Außenhandel zu verdanken. So war beispielsweise die Piraterie gegen englische und spanische Schiffe staatlich sanktioniert, und die Westindische Handelskompanie, die dank ihres Sklavenhandelsmonopols blendende Profite machte, konnte in manchen Jahren bis zu 50 Prozent Dividende an ihre Aktionäre ausschütten.

Der wirtschaftliche Erfolg der Niederlande rief natürlich den Zorn der Konkurrenten um die Welthandelsherrschaft hervor: „Sie sind wie schädliche Insekten, die sich über die Erde verbreiten werden wie Unkraut“, klagte ein englischer Propagandist (S.290), und Owen Felltham bezeichnete Holland 1660 als „unreifen Käse in Salzlake“, der am „Hintern der Welt“ liege (S.60).

Doch der plötzliche Reichtum beschwor auch im eigenen Land die Kritik einer sittenstrengen calvinistischen Moral herauf, wobei weniger die Erwerbsmethoden, sondern vielmehr der Umgang mit dem Zusammengerafften angeprangert wurde: „In Holland, da sitzt der Dämon Gold auf einem Thron aus Käse und trägt eine Krone von Tabak“, wetterte Claudius Salmius, Gelehrter der Universität Leiden, über den hemmungslosen Materialismus der Landsleute. Daß schlechtes Gewissen und Selbstzweifel aber letztlich doch ohne Auswirkungen auf lieb gewordene Konsumgewohnheiten bleiben, bezeugt die Speiseliste einer Tagung der Arnheimer Chirurgengilde aus dem Jahre 1703. Demnach verzehrten sieben Männer bei einer einzigen Sitzung 14 Pfund Rindfleisch, acht Pfund Kalbfleisch, sechs Hühner, diverses Obst und Gemüse sowie 20 Flaschen Rotwein, zwölf Flaschen Weißwein und Mengen von Kaffee.

Voller Widersprüche war auch der Moralkodex einer bigotten Männergesellschaft, die bereits die Kleinfamilie als Ideal auf den Schild zu heben begann und der Frau die Rolle zugewiesen hatte, das Heim behaglich zu gestalten. Gleichzeitig erschienen in hohen Auflagen mit moralischer Entrüstung getarnte Hurenhandbücher, die dem braven Bürger den Weg durch die dichtverzweigte Amsterdamer Bordellszene wiesen.

Man ist als Rezensent leicht geneigt, Schamas faszinierenden Schilderungen, die in einer nuancenreichen Sprache voller ironischer Feinheiten verfaßt sind, noch mehr Platz einzuräumen. Peter Burke mußte bei aller Kritik an der englischen Originalausgabe einräumen, er habe noch von keinem lebenden Historiker eine so blendend geschriebene Abhandlung gelesen. Daher soll hier auch noch kurz auf die deutsche Übersetzung eingegangen werden. Ich war ursprünglich der Meinung, die metapherreiche, mir unübersetzbar scheinende Sprache des Originals The Embarrassment of Riches ließe sich eigentlich nicht adäquat ins Deutsche übertragen. Doch Elisabeth Nowak hat diese schwere Aufgabe mit einer Bravour gemeistert, die wohl nur mit einem Schuß Kongenialität möglich ist. Dabei verzeiht man ihr gerne die eine oder andere Holperigkeit.

Dem Kindler Verlag ist zu danken, daß er diese wirtschaftlich sicher nicht risikolose Edition vorgelegt hat. Um die Kosten zu minimieren, wurde auf prätentiöse Farbtafeln verzichtet, was einen verhältnismäßig moderaten Preis von 68 DM ermöglichte. Leider aber ist den Lektoren auf den letzten Metern dieses Mammutunternehmens etwas die Luft ausgegangen. Das Register fällt mit fehlenden und fehlerhaften Verweisen sowie falschen Namensangaben vom hohen Standard des Buches ab; ein Mangel, der angesichts moderner und leistungsstarker Textverarbeitungssysteme besonders ärgerlich, weil überflüssig ist. Auch vermißt man, wie auch schon im englischen Original, eine kurze chronologische Übersicht der Daten und Fakten zur nicht unkomplizierten niederländischen Geschichte. Mit Hilfe eines solchen Gerüstes könnten auch Laien einige Andeutungen im Text besser einordnen und verstehen.

Dieses Desiderat wird aber durch die sonstige Qualität des Werkes mehr als aufgewogen. Simon Schama kommt das Verdienst zu, mit seiner sozialpsychologischen Studie einer im wahrsten Sinne des Wortes demokratischen Geschichtsschreibung den Weg geebnet zu haben. Statt weiterhin nur die Zeugnisse einer Herrschaftsgeschichte zu studieren, werden sich Historiker künftig auch in die Niederungen der Volkschroniken, Bordellführer oder Kochbücher begeben müssen.

Gerade in den letzten Wochen wurde vielfach wieder der längst ausgedient gewähnte Topos von den „großen Männer, die Geschichte machen“, bemüht. Da ist es besonders tröstlich, solch markigen Vorstellungen ein Modell entgegensetzen zu können, das die profanen, ja banal scheinenden Mikrokosmen sichtbar macht, aus denen sich der historische Makrokosmos konstituiert. Vielleicht werden Historiker in 300 Jahren (falls es dann noch so etwas wie eine zivilisierte Menschheit gibt) wie selbstverständlich davon ausgehen, daß die Speisekarte eines Yuppie-Restaurant und der „Warenkorb“ eines Sozialhilfeempfängers viel mehr über unsere Geselslchaft verrät als offizielle Regierungsdaten und -taten irgendeines längst in Vergessenheit geratenen Kanzlers.

Simon Schama: „Überfluß und schöner Schein . Zur Kultur der Niederlande im Goldenen Zeitalter“. Aus dem Englischen von Elisabeth Nowak. Kindler Verlag, München 1988. 717 S., 314 Abb., 68 DM.

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