: „Da fehlt doch noch ein Glied“
„Wenn anfangs nur die Bluter und Schwulen infiziert waren, wie kommt die Seuche dann zu den Nutten?“ fragt Helga aus dem Berliner Huren–Selbsthilfeprojekt „Hydra“. „Gehen nur die in den Puff? Da fehlt doch noch ein Glied. Vielleicht das von Otto Normalverbraucher?“ Über Schlagzeilen einer Boulevardzeitung, in der die HIV–positive Prostituierte „Trude mit den schwarzen Strapsen“ zur Fahndung ausgeschrieben wird, können die Frauen schon lange nicht mehr lachen, die sich abseits des Milieus in ihrem zwischen langen grauen Bürokorridoren versteckten „Nest“, Aktionszentrum und Nachtexpress–Redaktionsraum zugleich, treffen. Nicht weil die AIDS–Angst längst das Geschäft verdorben hat. „Ein Verfall der Sitten und der Preise“, wie Regina stöhnt, die die schwere Last einer konjunkturabhängigen Freischaffenden auf den schwachen Schul tern spürt. Für die „Hydra“– Frauen verkehrt sich in so einer Schlagzeile die Welt. „Nutten sind die Gefährdeten“, sagt Regina, „die Frauen haben Angst.“ Da gibt Prof. Meinrad Koch, Chef der Virologie am Bundesgesundheitsamt, den Hydra–Frauen recht: „Eine Frau steckt sich beim Geschlechtsverkehr leichter an als ein Mann.“ Und aus der ihm vorliegenden Statistik weiß der AIDS–Forscher: „Die mittelständische deutsche, nicht fixende Prostituierte ist nicht infiziert. Deshalb sollte man besser die Freier auf HIV–Antikörper testen.“ „Natürlich“, fügt er hinzu, „ist es anders bei Damen des Gewerbes, die früher an der Spritze hingen.“ Probleme bereiten dem Arzt die Fixerinnen auf dem Billigstrich. Da sieht auch Helga alle Vorsicht begraben: „Mit denen kann der Freier machen, was er will.“ Ob sich die Kunden von den Fixerinnen nach den Äufklärungsschriften nicht bald fernhalten? „Nee.“ Helga schüttelt den Kopf. „Viele wollen doch das gefallene Mädchen. Manchen muß man das ja auch noch vorspielen. Der Mann will das Gefühl haben, er tut auch noch ein gutes Werk.“ Die Frauen diskutieren bei ständig laufender Kaffeemaschine schon zum hundertsten Mal dieselben Fragen. Sie wissen, Männer sind doppelt so oft geschlechtskrank wie Frauen. Für sie fördert das Gesetz, das durch „Bockscheine“ des Gesundheitsamtes scheinbar keimfreie Nutten garantieren soll, die Verantwortungslosigkeit der Freier. „Das sind immer dieselben“, kennt Regina ihre Pappenheimer unter der Kundschaft, „die wollen keine Gummis, aber Meldepflicht.“ Und wo die hinführt, weiß Claudia aus überliefertem Familienwissen: „Dann werden die Infizierten versteckt wie früher die Lungenkranken, damit keiner merkte, daß es einen TBC–Fall in der Verwandschaft gab.“ Das Problem des deutschen Kerls mit dem Präservativ - nur 20 Prozent der Männer sind nach der Statistik des Berliner Sozialsenats freiwillig bereit, Kondome zu benutzen - können die „Fachfrauen“ in der Runde „aber 100 Prozent“ bestätigen. „Die immer ängstlichen, die älteren, die Gummis eher gewohnt waren, die bleiben jetzt ganz weg“, bedauert Regina. „Und das waren eher die angenehmeren Freier“, fügt Helga hinzu. „Die Rücksichtslosen kommen weiter.“ Im Gewerbe ergibt sich das Infektions–Risiko auch weniger für den traditionellen Straßenstrich - „die arbeiten schon immer mit Gummi“. „Es gab feste Standplätze, und jede paßte auf die Nachbarin auf.“ Nur manche Puffbesitzer wollen noch immer, daß ohne gearbeitet wird. Und der Kundenrückgang verschärft die Konkurrenz in den sogenannten Modell–“Clubs“ und läßt manche Filiale das Billigangebot risikoreich erhöhen. „In einigen Clubs kannst du jetzt für einen Spottpreis alles kriegen, ohne Gummi“, ist die Flüsterpropaganda aus den billigen Bezirken bis zu Regina vorgedrungen. „Das ist der Horror.“ Andere Clubs hatten sich sofort der von „Hydra“ initiierten „Safer–Sex“–Kampagne anschließen wollen. Doch die Initiative scheiterte am Hausjuristen des Springer–Konzerns. Das Berliner „Sex und Crime“– Blatt für den Hausgebrauch, BZ, mit täglich mehreren Seiten teurer „Modell“–Anzeigen, lehnte die mit dem „Safer Sex“–Vermerk nach kurzer Zeit ab. Es verstoße gegen Anstand und Sitte. Aus der Annonce ginge hervor, daß dort Prostitution stattfinde, wurde den Frauen mitgeteilt. Auch die Formulierung „Pariser Modell“ scheiterte an der freiwilligen Selbstzensur des Blattes. Aus den üblichen Texten wie „Sklavia– Modell“, „Schmuse Mandy“, „Schöne Negerin“, „unbehaarte Nixe“ ließe sich wirklich nichts Verfängliches herauslesen. Und mancher Freier hatte tatsächlich „scharfer Sex“ zusammenbuchstabiert. „Es gab massig Anrufe“, erinnern sie sich an das unentwegt klingelnde Telefon. „Viele hielten das für eine neue Praktik.“ „Ach, mit Gummi soll das sein“, legte dann mancher Hoffnungsvolle enttäuscht wieder auf. „Aber für viele Frauen hatte das eine Signalwirkung“, zieht Inge die Bilanz der Aktion. „Die Frauen“, so zeigt für sie die Resonanz, „haben keine Lust mehr, ohne zu vögeln.“ Kuno Kruse
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