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Archiv-Artikel

DER KUSS DES SCHWULEN HENKERS

VON RALF SOTSCHECK

Ist er etwa schwul? Die Comic-Szene ist in Aufruhr. Ihr Held, Judge Dredd, küsst in der neuen Folge von „2000 AD“ einen jungen Mann in einer Schwulenkneipe. Der Verlag hat bisher nur diese eine Seite vorab veröffentlicht. Das neue Heft erscheint am Mittwoch. Es heißt „Closet“.

„2000 AD“ ist seit 35 Jahren einer der erfolgreichsten britischen Comicstrips und wurde vielfach bei Comic-Preisverleihungen prämiert. Die Hauptfigur, Judge Joseph Dredd, gehört einer Eliteeinheit von Straßenrichtern an, die für Ordnung in der von Gewalt beherrschten Mega-City One sorgen. Er ist mit einem „Lawgiver“ bewaffnet, der sechs verschiedene Arten von Munition abfeuern kann. Sein Transportmittel ist der „Lawmaster“, ein Motorrad, das mit Maschinengewehren ausgerüstet ist und auf Befehl von Dredd eigenständig handeln kann. So weit, so langweilig.

Dredd ist aber nicht nur Ordnungshüter und Richter, sondern auch Henker: Er darf einen Schurken auf der Stelle verurteilen und erschießen – eine Vollmacht, die manchen Scotland-Yard-Beamten zur Nachahmung animiert hat. Man denke an den Brasilianer Jean Charles de Menezes, der 2005 in einer Londoner U-Bahn erschossen wurde, weil man ihn für einen Terroristen hielt, oder an Mark Duggan, der vor anderthalb Jahren von der Polizei ohne Not in einem Taxi durch einen Schuss in die Brust getötet wurde.

So etwas ist für Dredd Routine. Er ist ein harter Bursche, der Lederklamotten trägt und sein Gesicht hinter einer Maske verbirgt. Seine Kleidung habe durchaus ein fetischistisches Element, räumt der Autor Rob Williams ein, fügt aber hinzu: „Dredds Sexualität, was immer sie sein mag, ist unter seiner Liebe für das Gesetzbuch versteckt.“ Ein Dingficker?

Ein Verlagssprecher deutete an, dass der Küsser gar nicht Dredd sei, sondern ein Imitator. „Es ist nicht alles, wie es scheint“, sagte er. Der schwule Kuss hat in den Fan-Foren dennoch Tumulte ausgelöst. „Das ist eine Ente, pure Erfindung, ein verfrühter Aprilscherz“, fleht einer. „Die pfuschen an allem herum. Richter Dredd schwul? Die Fans werden ihre Heftchen verbrennen.“ Ein anderer fragt ängstlich: „Onaniert der jetzt auch noch in sein Gesetzbuch?“ Ein Hardcore-Fan hat die Schuldigen ausgemacht: „Als der Dredd-Film voriges Jahr in die Kinos kam, beschwerten sich die Linken darüber, was für ein Faschist und Nazi Dredd sei. Es ist typisch, dass sie jetzt versuchen, ihn in eine Schwuchtel zu verwandeln.“

Im Film spielt übrigens Sylvester Stallone den Richter – eine Paraderolle für diese hölzerne Leinwandnull mit gefrorener Mimik, die zum Glück hinter der Maske verborgen blieb.

Ein Fan analysierte im Forum scharfsinnig: „Ein schwuler Dredd? Das ergibt keinen Sinn für mich. Ich dachte, Richter müssen im Zölibat leben und dürfen keinerlei romantische Verbindungen eingehen. In dem Fall wäre es doch egal, ob Dredd homo- oder heterosexuell ist.“ Er hat völlig recht: Dredds Sexualität ist schnuppe. Er und die realen Möchtegern-Dredds sind miese Charaktere, die für einen Polizeistaat arbeiten.