: DDR berät Gesetz über Westreisen
■ Kirchenkreise in der DDR berichten über baldige gesetzliche Regelungen zu Reisen in den Westen / Bislang durften nur Rentner reisen / Vorsitzender des Evangelischen Kirchenrates, Leich, sprach mit Staats– und Parteichef Honecker / Mehr Rechtssicherheit gefordert
Berlin (ap/taz) - Die DDR arbeitet offenbar an einem Gesetz über Reisemöglichkeiten ihrer Bürger in den Westen. Nach Angaben aus kirchlichen Quellen kündigte DDR–Staats– und Parteichef Erich Honecker im Gespräch mit dem Vorsitzenden des evangelischen Kirchenbundes der DDR, Werner Leich, an, daß zur Zeit „die Bedingungen geprüft werden, unter denen DDR–Bürger in den Westen reisen könnten“. Nach bisheriger Praxis dürfen DDR–Bürger erst nach ihrem 65. Lebensjahr in den Westen reisen. Ausnahmen macht die DDR in Fällen dringender Verwandtenbesuche. Nach Angaben aus Bonn soll die Genehmigungspraxis für Verwandtenbesuche im Vorjahr bereits großzügiger als in der Vergangenheit gewesen sein. Fast auf den Tag genau zehn Jahre nach dem berühmten Grundsatzgespräch über die Beziehungen zwischen Staat und Kirche in der DDR, bei dem beide Seiten mehr Offenheit im Umgang miteinander vereinbart hatten und den Abbau von Mißtrauen, war es ohne vorherige Ankündigung bereits am Donnerstag zu dem Gespräch zwischen Honecker und Leich gekommen. Der Bischof verlangte dabei in seiner Rede eine Begründungspflicht des Staates in Antragsverfahren. Zugleich klagte er über eine mangelnde Dialogbereitschaft des Staates. Fortsetzung auf Seite 2 Honecker sagte zu, die Kirchenpolitik der DDR fortzusetzen. Der gemeinsame Weg von Staat und Kirche werde eine lange Zukunft haben. Für die Bearbeitung von Ausreiseanträgen forderte der Bischof eine Mindestwartezeit bis zur Ausbürgerung aus der DDR. Auch abgelehnte Anträge für Westreisen sollten begründet werden. Leich kritisierte die Ablehnung von Anträgen ohne Begründung als „distanzierte Entscheidung der Macht“. Der thüringische Landesbischof sprach sich in seinem Gespräch mit Honecker auch für die Einführung eines zivilen Wehrer satzdienstes aus. Weiter forderte er Chancengleichheit beim Zugang zur Volks–,Fach–, und Hochschulbildung. Auch solle der Staat mehr mit Bürgern zusammenarbeiten, die sich mit den Problemen des Umweltschutzes auseinandersetzten. Außerdem schlug er vor, daß DDR–Bürger in ihrem Lande auch seriöse Westzeitungen kaufen können sollen. Leich kritisierte die auf Dialog gerichtete Außenpolitik der DDR, sie stehe nicht mit der Innenpolitik auf gleicher Stufe. Zugleich wies er den SED–Vorsitzenden mit Blick auf die Auseinandersetzungen der letzten Monate darauf hin, daß die Kirche sich die Rolle, in die sie geraten sei nicht ausgesucht habe. Die eigentlichen Adressaten hätten keine Bereitschaft zum Dialog signalisiert. Die Ostberliner Nachrichtenagentur ADN veröffentlichte die kritischen Passagen der Leicht–Rede im Staatsratsgebäude nicht,. auch gab es kein gemeinsam von Staat und Kirche getragenes Pressekommunique zu dem Meinungsaustausch.
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