: DDR-Zuzug: Vogel verhandelt in Bonn
■ Honecker-Vertrauter will angeblich Lösung bis zum 7.Oktober erreichen / Lösung für Warschauer Botschaftsflüchtlinge in Sicht / Masseneinreise in die BRD hält an / Verfassungsschutz sieht Spionage-Welle
Bonn/Berlin (dpa/ap/afp) - Erstmals hat sich jetzt DDR -Staats- und Parteichef Honecker in die Bemühungen um eine Lösung des Flüchtlingsproblems eingeschaltet. Überraschend ist der für Ausreisefragen in Ost-Berlin zuständige Rechtsanwalt und Vertraute Honeckers, Wolfgang Vogel, am Freitag abend in Bonn mit Kanzleramtsminister Rudolf Seiters zusammengetroffen. Nach Informationen der 'Welt am Sonntag‘ will Honecker bis zum 40.Jahrestag der DDR-Gründung am 7.10. eine Lösung des Flüchtlingsproblems erreicht haben.
Die Massenflucht der DDR-Bürger über die seit zwei Wochen geöffnete ungarische Westgrenze hielt am Wochenende unvermindert an. Knapp 20.000 Emigranten sind seitdem in der Bundesrepublik eingetroffen. Von Samstag morgen bis Sonntag morgen passierten 819 DDR-Aussteiger die ungarisch -österreichischen Grenzkontrollstellen. 987 DDR-Bürger erreichten am Wochenende Bayern mit Privatwagen, Bussen und Zügen. Seit Öffnung der ungarischen West-Grenze sind drei DDR-Bürger beim Versuch, durch die Donau illegal aus der CSSR nach Ungarn zu gelangen, ertrunken. Das berichtete am Samstag der Kommandant des westungarischen Grenzbezirks Györ (Raab), Oberst Tibor Vidus. Insgesamt seien in diesem Zeitraum 951 DDR-Bürger illegal aus der CSSR nach Ungarn gekommen, 265 davon seien durch die Donau geschwommen.
Lösung in Warschau?
Nach Berichten des 'Spiegels‘ und der 'Bild am Sonntag‘ steht eine Lösung für die etwa 230 DDR-Bürger in der bundesdeutschen Botschaft in Warschau unmittelbar bevor. Danach sollen die Warschauer Botschaftsflüchtlinge in einem ähnlichen Vefahren wie bei der Bonner Vertretung in Budapest über ein Drittland - in diesem Fall Schweden - in die Bundesrepublik ausreisen können. Gedacht werde an einen Transitverkehr über den polnischen Hafen Gdingen in die schwedische Hauptstadt Stockholm.
Die DDR sei zu einer „einmaligen humanitären Aktion“ noch vor dem 7. Oktober, ihrem 40. Gründungstag, bereit. Außenamtssprecher Jürgen Chrobog bezeichnete diese Berichte als „reine Spekulation, die durch nichts begründet ist“.
Auf dem Botschaftsgelände in Prag hat sich die Situation zugespitzt. Die Zufluchtsuchenden können in den Büroräumen und großen Zelten kaum noch aufgenommen werden. In Prag werde befürchtet, daß bald die „Schallgrenze“ von 1.000 Flüchtlingen aus der DDR dort erreicht sein werde.
Genscher trifft Fischer
Bereits heute will Bundesaußenminister Genscher (FDP) am Rande der UNO-Vollversammlung in New York mit seinem CSSR -Amtskollegen über die Prager Botschaftsflüchtlinge sprechen. Außerdem sind in dieser Woche Unterredungen mit den Außenministern der DDR, Ungarns, Polens und der UdSSR vorgesehen. Trotz der Spannungen mit der DDR-Führung wollen CDU, FDP und SPD den Gesprächsfaden mit Ost-Berlin nicht abreißen lassen. Einhellig verurteilten sie das Verbot der Demokratiebewegung „Neues Forum“. Der SPD-Vorsitzende Vogel rechnet trotz der gegenwärtigen Unnachgiebigkeit Ost-Berlins gegenüber der Opposition damit, daß in der DDR in absehbarer Zeit schließlich doch innere Reformen in Gang kommen. Der saarländische Ministerpräsident Lafontaine warnte vor Unruhen in der DDR, „die Reformen unendlich erschweren“ würden. Die DDR-Führung sollte nach Ansicht von Genscher endlich die Notwendigkeit von Reformen sowie die darin liegenden Chancen erkennen.
Angst vor Spionen
Die Bundesrepublik ist der Einschleusung von Spionen, die im Zuge der Fluchtwelle aus der DDR ins Land kommen, derzeit ziemlich wehrlos ausgeliefert. Das erklärte der stellvertretende Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Peter Frisch. Die regulären Kontrollen, denen DDR-Bürger bei der Übersiedlung unterzogen würden, seien angesichts der großen Zahl der Flüchtlinge unmöglich. „Wir rechnen damit, daß die DDR diese Ausreisewelle dazu benutzt, um jetzt Leute relativ einfach einzuschleusen.“
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