: DDR-Handel setzt sich zur Wehr
■ Demonstranten durchbrechen die Bannmeile vor der Volkskammer / Anhörung zur Versorgungslage Lex Diestel wird beraten / Volkskammer berät Mietpreisbindung in erster Lesung
Berlin (ap/dpa) - Im Einzelhandel der DDR wird die Stimmung immer explosiver. Aus Protest gegen die Beschlüsse der Regierung zur Entflechtung der alten Handelsorganisationen durchbrachen am Freitag mehrere tausend Einzelhandelsmitarbeiter die Bannmeile vor der Volkskammer, die in Ost-Berlin tagte. Vor dem Parlament bemühte sich Ministerpräsident Lothar de Maiziere persönlich, die aufgebrachten Gemüter zu beruhigen. Die Volkskammer reagierte mit einer öffentlichen Anhörung, an der auch Vertreter des Handels teilnahmen. Die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen drohte mit Streiks im ganzen Land.
Die Beschäftigten befürchten einen Ausverkauf in ihrem Wirtschaftssektor und Massenentlassungen. Um das Monopol der alten Handelsorganisationen zu brechen, sieht das Gesetz zur Entflechtung des Handels vor, die bisher bestehenden Verkaufsstellen zu veräußern. Die Demonstranten verlangten, das Gesetz zurückzunehmen. De Maiziere versicherte einer Abordnung der Einzelhandelsbeschäftigten, bei der Anwendung des Gesetzes Handelsvertreter hinzuzuziehen
Auf der kurzfristig einberufenen Anhörung sprachen der Vorsitzende des Konsumverbandes Cottbus, Peter Krüger, und der stellvertretende Vorsitzende der Geschäftsleitung der Supermarktgruppe Tengelmann, Franz Schmitz. Beide beklagten, daß dem Einzelhandel zu Unrecht die Schuld an der Versorgungslage und den hohen Preisen gegeben werde. Die Parlamentarier hingegen warfen dem Handel vor, sich in Verträgen mit westdeutschen Partnern verpflichtet zu haben, keine oder nur sehr wenige DDR-Produkte anzubieten. Schmitz, dessen Unternehmen zusammen mit der früheren staatlichen Handelsorganisation an der neuen Hofka-Gesellschaft beteiligt ist, sagte, daß bei Hofka knapp ein Drittel des Sortiments aus DDR-Produktion stamme.
Bereits am Vortag beriet die Volkskammer eine Änderung des Abgeordnetengesetzes. Die DSU wandte sich energisch gegen die Vorlage, die ein freies Mandat zusichert. Dementsprechend könnten die aus der DSU ausgetretenen Minister Diestel und Ebeling anderen Parteien beitreten, ohne ihre Abgeordnetensitze abzugeben. Ebenso wurde ein Gesetz zur Wohnraumbelegung beraten. Danach kann die Regierung einen maximalen Mietpreis für Wohnungen festlegen, die sich ab 1. September in kommunaler Hand befinden. Allen Vermietern sollen nach Inkrafttreten von den zuständigen Ämtern drei Wohnungssuchende vorgeschlagen werden. Nur wenn eine Wohnung innerhalb von zwei Monaten nicht an Inhaber eines Wohnberechtigungsscheines vergeben wird, soll sie auf dem freien Markt angeboten werden können.
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