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Crashkurs mit Teufelsmalen

Wissenschaftliche Anleitung für eine Hexenjagd auf linksradikale Richterinnen und ähnliches versifftes Geschmeiß

Die Zeichen und die Hexen sind einfach überall Foto: Volker Derlath

Von Christian Bartel

„Schauen Sie genau hin!“, flüstert die Kursleiterin und weist auf eine Szene im kleinen Park gegenüber, die weniger sensibilisierten Betrachtern vielleicht als bürgerliche Idylle erscheinen würde. Eine junge Mutter steckt ihrem Sohn Apfelschnitze in den Mund. Der Dreikäsehoch verzieht das Gesicht, wackelt zum nächsten Busch und spuckt den Mundinhalt ins Gestrüpp, wo ein kleiner Hund ihn aufleckt, bis er von seinem Herrchen zurückgepfiffen wird. „So werden konspirativ linke Bazillen verbreitet“, behauptet Johanna-Maria von Sonnenstein.

Jeden Sonntagnachmittag lädt die adelige Extremismusforscherin und Lebensschützerin politisch Interessierte zur Feindbeobachtung in eine eigens angemietete Beletagewohnung im Holländischen Viertel der brandenburgischen Landeshauptstadt, um Linksextreme auf freier Wildbahn zu beobachten.

„Das hier ist der Fortgeschrittenenkurs“, erklärt Sonnenstein. „Wir spüren versteckte Radikalmarxisten auf, die sich bürgerliche Tarnexistenzen aufgebaut haben. Etwa als Hochschullehrerin für öffentliches Recht in Potsdam, nur mal als rein zufällig gewähltes Beispiel.“

Denn wo der naive Konservative die Mitte der Gesellschaft durch einen durchgentrifizierten Bezirk flanieren sieht, identifiziert die Expertin mit sicherem Blick woke Terrorbestien und kulturmarxistische Schläferzellen.

„Aber die Frau sieht doch ganz adrett aus, und der Herr mit Hund hat gerade noch die FAZ gelesen“, wendet eine Teilnehmerin ein, für die Kursleiterin Sonnenstein nur verächtliches Augenrollen übrig hat. „Typisch Merkelianerin“, schnaubt sie. „Auf dem linken Auge betriebsblind.“

„Das stimmt wohl“, gibt die CDU-Bundestagsabgeordnete kleinlaut zu. „Ich hatte zunächst auch nicht erkannt, dass Frauke Brosius-Gersdorf eine linksradikale Aktivistin ist, als sie zur Wahl für das Bundesverfassungsgericht vorgeschlagen wurde. Ich hielt sie für eine anerkannte Rechtswissenschaftlerin mit eher liberalen Posi­tio­nen, bis ich täglich 37.000 besorgte Hass-E-Mails bekam. Die Frau sieht ja auch total bürgerlich aus. Wie hätte ich da ihre extremistische Disposition erkennen können? Geäußert hat sie die ja nie.“

„An der Schädelform!“, triumphiert Kraniometrikerin Sonnenstein, die von ihrem Großvater eine beachtliche Schädelsammlung geerbt hat, die sie aus rechtlichen Gründen nicht öffentlich zeigen kann. Deswegen behilft sie sich mit einem Porträt der Kandidatin Brosius-Gersdorf.

„Das abgeflachte Schädeldach weist auf progressiven Schwachsinn hin, die gewölbten Schläfenknochen auf emanzipative Idiotie. Der typische Schädel einer fanatischen Kindsmörderin“, erklärt die freiberufliche Erbgesundheitsberaterin. „Achten Sie einmal selbst auf typische Merkmale.“

Hinter den Scheiben richten die Teilnehmer ihre Ferngläser wieder auf die Passanten und füllen Beobachtungsbögen aus. Neben der CDU-Abgeordneten, die von ihrer Fraktion zur ideologischen Nachschulung bei Sonnenstein geschickt wurde, nehmen an dem Workshop auch verunsicherte Journalisten teil, die sich die wissenschaftlichen Grundlagen für den rechtsautoritären Kulturkampf ihrer ehemals konservativen Medienhäuser draufschaffen wollen.

Neben dem Crashkurs in Schädelkunde gibt die Extremismusforscherin auch Einblick in die theologischen Hilfswissenschaften, die zur Klassifizierung von Linken entwickelt wurden. Dazu hat sie ein Schaubild mitgebracht, das sauber zwischen globalistischen Inkuben und so­zia­listischen Sukkuben unterscheidet. Ferner werden Fotos von Teufelsmalen herumgereicht – die Hamartome von Linksextremen ähneln oft Che Guevara, Heidi Reichinnek oder einem abgetriebenen Fötus, hat Sonnenstein herausgefunden.

„Ist Habeck noch amtierender Antichrist, oder ist er jetzt von Frau Brosius-Gersdorf abgelöst worden?“, will ein Nachrichtenredakteur wissen. „Oder muss man in dem Fall Antichristin schreiben?“ Der Mann findet sich geteert und gefedert am Schandpfahl im Separee wieder.

„Stimmt es, dass man Abtreibungsbefürworter am Schwefelgeruch erkennen kann?“, will der Vertreter einer katholischer Organisation wissen, der für den Bamberger Erzbischof Abweichler in den eigene Reihen aufstöbern und – wenn verfassungsrechtlich möglich – verbrennen soll.

„Nur in geschlossenen Räumen“, hilft Extremistenaustreiberin Sonnenstein mit ihrer Expertise aus. „Aber Linksradikale werden nass, wenn man sie mit Weihwasser besprengt. Das ist ein untrügliches Zeichen.“

Befürworter von Abtreibungen können seit jeher am Schwefelgeruch erkannt werden

Nachdem genug radikale Elemente im Stadtbild anhand von Schädelform, Gangbild und Vogelflug bestimmt sind, bricht die Truppe zu einer Exkursion auf. Im Feldversuch soll das erworbene Wissen angewandt werden. Einige Teilnehmer legen FFP2-Masken an, um sich vor der Ansteckung mit linken Bazillen zu schützen, doch die meisten lehnen Maulkörbe als Symbole des linken Staatsterrors ab und behelfen sich mit Knoblauchkränzen, Amuletten und frommen Gesängen.

Der Weg führt die Expeditionsteilnehmer und ihre einheimischen Träger über die Grenzen der Potsdamer Zivilisation hinaus in die verlotterte Bundeshauptstadt, wo angeblich noch immer riesige Herden von Linksextremen durch die überfremdeten Straßen marodieren.

„Dort!“, ruft Johanna-Maria von Sonnenstein, nun standesgemäß im Safaridress, und reckt die Elefantenbüchse. Schnell ist am Ufer des Berliner Landwehrkanals eine potenzielle Linksradikale anhand einer vagen Ahnung und einer Pigmentstörung in Form eines Gendersternchens identifiziert. Helfer trennen das Exemplar von der Herde und bringen es mit dem Wurfholz zu Fall. Auch wenn die Frau betont, eine unbescholtene Touristin aus dem Hessischen zu sein, wird sie an Händen und Füßen gebunden und der Gerichtsbarkeit zugeführt.

„Kommen wir nun zur Wasserprobe!“, erklärt die Kursleiterin den streng wissenschaftlichen Prozess. „Wenn die Angeklagte schwimmt, ist sie eine Linksextreme, geht sie unter, ist dem demokratischen Diskurs Genüge getan. Dann suchen wir eben eine neue Kandidatin und wiederholen den Prozess.“

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