Coronahilfen für Selbständige: Statt Geld kommt eine Anzeige

Zahlreiche Selbstständige erhalten Vorladungen der Polizei. Der Vorwurf: Subventionsbetrug. Verband spricht von mindestens 8.200 Fällen.

Frauen und Mäner in 20er Jahre Kleidung und Plakaten

Tatsächlich Ganoven? Künstler:innen protestieren gegen die bürokratischen Coronahilfen Foto: Christian Mang

NÜRNBERG taz | Für Gerd „Geraldino“ Grashaußer war es ein doppelter Schlag. Der Musiker aus Nürnberg musste wegen des zweiten Lockdowns erneut Auftritte absagen, mit denen er zumindest kleine Gagen erwirtschaftet hätte. Ende Oktober flatterte dann eine Vorladung ins Haus: Grashaußer, der seit Monaten von der Grundsicherung lebt, wurde versuchter Subventionsbetrug vorgeworfen.

Wie es dazu kam? Grashaußer beantragte im März recht schnell die Soforthilfe für Selbstständige aus Mitteln des Bundes und des Landes. Diese Gelder durfte er jedoch nicht für private Lebenshaltungskosten, sondern nur für betriebliche Zahlungsverpflichtungen verwenden. Diese „Betriebskosten“-Konstruktion sorgte von Anfang an für Proteste aus Kunst und Kultur.

Im Mai besserte die Bayrische Staatsregierung nach und beschloss die Künstlerhilfe: Soloselbstständige wie Grashaußer können nun bis zu 1.000 Euro pro Monat beantragen und von diesem Überbrückungsgehalt auch ihren Lebensunterhalt finanzieren. Die Künstlerhilfe gilt aber nicht für alle. Menschen wie Grashaußer, die bereits über 3.000 Euro Soforthilfe bekommen hatten, waren ausgenommen. Was dem Musiker jedoch nicht klar war.

Grashaußer füllte also im Juni den Antrag auf Künstlerhilfe aus. In das Feld „Soforthilfe“ schrieb er eine 0, schließlich hatte er die gesamte Summe bereits im Mai ausgegeben. Der Freistaat lehnte seinen Antrag ab. Grashaußer beantragte Grundsicherung, um Miete und Essen zu bezahlen. Seinen Versuch, die Künstlerhilfe zu beantragen, wertete der Freistaat als versuchten Subventionsbetrug.

8.200 verdächtige Fälle

Der Fall von Gerd Grashaußer ist kein Einzelfall. Seit Oktober sammelt der Verband der Gründer und Selbstständigen (VGSD) solche Fälle. Bis Mitte Oktober hat der Zoll nach Recherchen des VGSD von den Banken insgesamt 8.200 Verdachtsmeldungen im Zusammenhang mit den Coronasoforthilfen erhalten.

Stein des Anstoßes war der Veranstaltungstechniker Sebastian Groschopp aus Leipzig. Groschopp, dem im ersten Lockdown alle Aufträge wegbrachen, wurde von der Leipziger Staatsanwaltschaft vorgeworfen, in seinem Antrag falsche Angaben gemacht zu haben: Ein Liquiditätsengpass beziehungsweise eine Notlage liege nicht vor. Im Interview mit dem VGSD sagt Groschopp: „Ich habe auch keine Ahnung, wie sie darauf gekommen sind, dass ich keinen Liquiditätsengpass gehabt haben soll, obwohl mir alle Aufträge für dieses Jahr auf einen Rutsch weggefallen sind.“

Der VDSG-Vorsitzende Andreas Lutz recherchierte nach. Auf Groschopp wurden die Ermittlungsbehörden demnach aufmerksam, als der Techniker seinen Dispo nicht ausgeschöpft hatte. Solche Angaben werden von den Landesbanken, die die Hilfe auszahlen, an die Ermittlungsbehörden weitergereicht. Zuständig ist in solchen Fällen die Zentralstelle für Finanztransaktionsuntersuchungen (FIU), eine Abteilung des Zolls. Normalerweise geht sie Verdachtsfällen von Geldwäsche oder Terrorismusfinanzierung nach.

Unklar, was gerade gilt

Anlass für eine Meldung der Banken kann etwa der Umstand sein, dass beim Antragsteller Geschäfts- und Privatadresse identisch sind, was bei Selbstständigen nicht selten vorkommt. Oder dass das Geschäftskonto auch für private Ausgaben genutzt wurde. Oder dass der Selbstständige vor Corona zwischenzeitlich kurzfristig angestellt gewesen sei. „Es handelt sich um ein breites Raster an Vorwürfen“, sagt Lutz.

Die Vorwürfe haben zum Teil gar nichts mit den Antragsbedingungen der Hilfsprogramme zu tun. Wie bei Groschopp, dem zum Verhängnis wurde, dass er seinen Dispo nicht ausschöpfte.

Zudem verändern die einzelnen Bundesländer die Bedingungen ihrer Hilfen immer wieder. „Als die Soforthilfe neu herauskam haben wir hier zehn Ehrenamtler nur damit beschäftigt herauszufinden, was gerade überhaupt gilt“, erinnert sich Verbandsvorsitzender Lutz. Der WDR berichtet von einem selbstständigen IT-Dienstleister und Videoproduzenten in Nordrhein-Westfalen, der die Soforthilfe zur Fortzahlung seines eigenen Gehalts, also für den Lebensunterhalt, verwendet hatte. Weil das Land NRW das zum Zeitpunkt des Antrags erlaubt hatte und erst später, rückwirkend, änderte. Auch gegen diesen Mann wird wegen Subventionsbetrugs ermittelt.

In anderen Fällen werden Selbstständige in Bayern wegen Subventionsbetrugs angezeigt, weil sie zu Unrecht oder zu viel Coronahilfe erhalten hätten. Über 100 Millionen Euro wurden bereits freiwillig zurückgezahlt. Wie genau die ausgezahlten Hilfen jetzt verrechnet werden sollen, was „zu viel“ überhaupt bedeutet, scheint aber noch gar nicht klar zu sein.

Das bayrische Wirtschaftsministerium schreibt auf seiner Homepage: „Zur Berechnung der Überkompensation führt der Bund aktuell Gespräche mit den Ländern. Die Einzelheiten hierzu werden nach Abschluss der Gespräche publiziert.“ Das heißt: Bevor klar ist, wie das Geld abgerechnet wird, erhalten die Betroffenen schon Anzeigen.

Hilfen werden kaum abgerufen

Als der angebliche Betrüger Grashaußer vorgeladen wurde, wusste er noch gar nicht, was genau ihm eigentlich zur Last gelegt wurde. Das erschloss sich auch im Verlaufe des polizeilichen Verhörs nur ansatzweise. Denn nur sein Anwalt bekam Akteneinsicht.

Während die ersten Programme nun abgewickelt werden, kommen neue wie die Novemberhilfe hinzu. Der Freistaat Bayern hat außerdem angekündigt, die Künstlerhilfe neu aufzusetzen. Der erste Anlauf habe nicht funktioniert: Statt der erwarteten 60.000 gingen nur 10.000 Anträge ein, von denen 8.000 bewilligt wurden.

Ähnlich verhält es sich mit den Soforthilfen des Bundes, von denen bis Oktober nur ein Drittel, 13,6 Milliarden, abgerufen wurde, wie das Finanzministerium mitteilte. Dafür haben die Unternehmen und Selbstständigen bereits 305 Millionen Euro wieder zurückgezahlt. „Das Geld wird ins Schaufenster gestellt, kommt bei denen, die es brauchen, aber nie an“, sagt Verbandsvorsitzender Lutz.

Hinzu kommt: Die Beschuldigten – ob soloselbstständig, Künstler oder Unternehmer – wurden oft gar nicht angehört oder um eine Stellungnahme gebeten, sondern direkt angezeigt. „Es ist zumindest bemerkenswert“, sagt Grashaußers Anwalt Ralf Peisl, „dass die gewährenden Behörden nicht wenigstens parallel dazu Rückforderungsbescheide versenden. Das wäre das typische Vorgehen.“

Es ist nicht Peisls einziger Fall in der Sache Subventionsbetrug derzeit. Seine Mandanten hätten sich, seiner Einschätzung nach, nach bestem Wissen und Gewissen durch die Formulare geklickt. Statt Geld gibt es jetzt häufig Anzeigen. „Ganz ehrlich“, sagt der Anwalt: „Wenn man das so verbürokratisiert und dann auch noch Ermittlungen drohen, ist es kein Wunder, wenn sich keiner mehr traut und die Hilfsmittel nicht abgerufen werden.“ Auch sein Mandant wird sich das in Zukunft zweimal überlegen.

Das Verfahren gegen Gerd Grashaußer wurde Ende November wegen Geringfügigkeit eingestellt. Es bleiben zumindest ein fader Beigeschmack und die Erinnerung an einige schlaflose Nächte.

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