Colson Whiteheads „Die Nickel Boys“: Im Lügengebäude

Missbrauch und Rassismus waren in der Dozier School for Boys in Florida systemisch. Davon handelt Colson Whiteheads „Die Nickel Boys“.

Blutspuren an einer Wand

Blutspuren auf der Wand des „Weissen Hauses“ der Arthur G. Dozier School for Boys Foto: imago images/ZUMA Press

Politische Romane sind eine zwiespältige Angelegenheit. Sie stehen unter dem Verdacht, die Mittel der Literatur als Instrument der Propaganda zu verwenden. Bekannt ist James Baldwins strenges Verdikt über den berühmten Anti-Sklaverei-Roman „Onkel Toms Hütte“ von Harriet Beecher Stowe.

Der Roman sei ein schlechtes, ein sentimentales Buch, das als Literatur und als politische Intervention gleichermaßen scheitert, weil es beide Ebenen auf ungute Art vermengt, weil hier der Kitsch der Literatur auf den Kitsch eines schwachen politischen Denkens stößt. Baldwins Fazit: „Literatur und Soziologie sind nicht dasselbe.“

Colson Whiteheads „Die Nickel Boys“ ist ein politischer Roman, der die Probleme politischer Literatur nach Möglichkeit vermeidet – ein Beispiel dafür, wie eine gelungene engagierte Literatur heute aussehen könnte, die nicht nur agitiert, sondern auch hohen ästhetischen Ansprüchen genügen kann.

Whitehead verarbeitet die reale Geschichte der Dozier School for Boys in Florida – eine Besserungsanstalt für „schwer erziehbare“ Jugendliche, wo über einen Zeitraum von über 100 Jahren junge Männer gefoltert, vergewaltigt und ermordet wurden.

Colson Whitehead:„Die Nickel Boys“. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Hanser, München 2019, 224 Seiten, 23 Euro

Der Sommer der Proteste gegen Polizeigewalt

Der Autor selbst sagte im Interview mit dem New Yorker, er habe sich im Sommer 2014, als er zum ersten Mal von den Verbrechen an der Dozier School hörte, nutzlos gefühlt. Es war der Sommer der Proteste gegen Polizeigewalt in Ferguson. Und über Dozier zu schreiben, habe ihm dabei geholfen, sich weniger nutzlos zu fühlen.

Entstanden ist der Roman also aus einem Bedürfnis heraus, sich in den politischen Kämpfen der Gegenwart als Schriftsteller nützlich zu machen – ein Bedürfnis, dessen Aktualität sich kaum bestreiten lässt: In Zeiten Donald Trumps und #BlackLivesMatter ist es angezeigt, das moderne Ressentiment gegen Protestliteratur aufzugeben, besonders wenn sie so gut gemacht ist wie „Die Nickel Boys“.

In Zeiten von Trump und Black Lives Matter ist das moderne Ressentiment gegen Protest-literatur zu hinterfragen

Erzählt wird die Geschichte der „Nickel School“ als Analyse eines rassistischen Systems. Der Autor nutzt dabei die Freiheiten und Mittel der fiktionalen Literatur, um zu verdichten und um Emotionen auszulösen – allen voran die politisch effektive Emotion der Empörung.

Whitehead hat einen historischen Stoff gefunden, der für sich selbst spricht, der das bis in die Gegenwart reichende Erbe der Diskriminierung in horrender Perfektion verkörpert. So kann ein grundsätzliches Problem politischer Literatur vermieden werden, nämlich die Tendenz, die Botschaft durch Erzählereingriffe oder Figurenrede vermitteln zu müssen – ein Problem, das etwa im letzten Teil des Romans „Native Son“ von Richard Wright auftritt, wo die Figur eines Anwalts in einem langen Plädoyer erklärt, wie der Protagonist Bigger Thomas durch ein rassistisches System zum Mörder gemacht wurde.

Wrights Roman von 1940 gilt heute zu Recht als Klassiker der Protestliteratur. (Er wurde dieses Jahr von HBO neu verfilmt.) Gleichzeitig steht er für die Probleme der Gattung: die literarisch wenig dynamischen Einschübe politisch-theoretischer Analyse und die Funktionalisierung der Figuren als Typen.

Bittere Pointen

Die Funktionalisierung der Figuren ist eine Eigenschaft politisch engagierter Romane, die sich kaum ganz vermeiden lässt. Politische Wirkung geht immer auf Kosten von moralischer und charakterlicher Ambivalenz. Das gilt auch für den Protagonisten von „Die Nickel Boys“. Curtis Elwood ist in vielfacher Hinsicht das Gegenteil von Bigger Thomas, der kein politisches Bewusstsein besitzt und dessen unkontrollierte blinde Wut ihn zu einem destruktiven Charakter macht.

Elwood dagegen ist bildungshungrig und aufgeklärt, ausgestattet mit dem brennenden Ehrgeiz, dem Schicksal, das eine rassistische Gesellschaft für ihn vorgesehen hat, zu entgehen. Er hört die Reden Martin Luther Kings auf einer Schallplatte und arbeitet in Nebenjobs, um aufs College gehen zu können. Elwoods tragischer Fehler ist der naive Glaube an die transformative Kraft der Bildung in einem System, das darauf angelegt ist, ihn zu vernichten.

Hier zeigt sich dann auch der Vorteil der einfachen Charakterisierung: Gerade weil Elwood ein uneingeschränkt guter Mensch ist, dem die uneingeschränkt bösen Vertreter einer rassistischen Institution gegenüberstehen, trifft sein unverschuldetes Scheitern die Leser*innen mit besonderer Wucht.

Whitehead gelingt es, den Gedanken der Meritokratie als ideologische Propaganda zu entlarven, und zwar zum einen, indem er dem naiv-integren Elwood einen weiteren Insassen der „Besserungsanstalt“, den sympathisch-zynischen Turner, beiseite stellt. Zum anderen, indem er zahlreiche bittere Pointen über die Romanhandlung verteilt. Diese Pointen erzeugen schmerzhafte Momente der Erkenntnis, ohne dabei auf plumpe Art transparent zu sein.

Ein Lexikon, dessen Seiten sich als leer erweisen

Das beginnt damit, dass Elwood ausgerechnet deshalb verhaftet und ins Nickel geschickt wird, weil er auf dem Weg zum College aus Geldmangel trampen muss und in ein gestohlenes Auto steigt. Schon auf dem Weg zur erhofften emanzipativen Bildung wird Elwood also von den Vertretern des Systems abgefangen. Hier spiegelt sich eine frühe Szene des Romans, in der Elwood in einem Abspülwettbewerb ein Lexikon gewinnt, dessen Seiten sich später als leer erweisen.

Zu Beginn seiner Zeit im Nickel äußert sich Elwood hoffnungsfroh über das Bildungsangebot der Institution, der Aufseher verweist auf den erzieherischen Segen der Feldarbeit. Und tatsächlich ist das Bildungsangebot der sogenannten Schule kaum existent; stattdessen werden die Jugendlichen als billige Arbeitskraft ausgebeutet. Die Nickel School ist eine Institution, die unter dem Deckmantel von Bildung und Besserung das Zwangssystem der Sklaverei reproduziert.

Auch die allgegenwärtige Gewalt innerhalb der Institution ist geprägt von grausamen Pointen. Geprügelt werden die Jugendlichen in einem Gebäude, das das „Weiße Haus“ genannt wird oder auch „Eiscreme-Fabrik“, weil man es „mit schillernd bunten Blessuren verließ“. Der Ort, an dem Vergewaltigungen stattfinden, heißt „Lover’s Lane“.

Wie sich zeigt, wird politische Analyse in „Die Nickel Boys“ vor allem mit dem Instrument der poetischen Ironie in ihrer bittersten Form vorangetrieben. Die Botschaft lautet: Hinter dem Lügengebäude der hehren Ideen, das eine Gesellschaft aufgebaut hat, steht das stabile System rassistischer Ungleichheit. Unter der Oberfläche einer Fortschrittsgeschichte verbirgt sich eine Geschichte der Gewalt.

Der geheime Friedhof der Schule

Der Roman beginnt mit dem zentralen Bild der Gräber, die in der Gegenwart der Erzählung im geheimen Friedhof der Schule entdeckt werden. Diese Exhumierung ist ein Verweis auf den Horror der realen Geschichte und steht gleichzeitig stellvertretend für das politisch-poetische Projekt des Romans: eine Archäologie der Geschichte des systematischen Rassismus in den USA.

Wie erzählt man diese Geschichte, ohne instrumentell oder gar sensationslüstern mit realem Leiden umzugehen? Whitehead nutzt eine zurückgenommene Form erlebter Rede, die einerseits die respektvolle Distanz zum Schicksal der Betroffenen aufbaut, andererseits Nähe erzeugt, indem er einen alltagssprachlich-sardonische Ton anschlägt, der die Stimme der Jugendlichen durchscheinen lässt.

Leider ist die Übersetzung dieser Herausforderung nicht immer gewachsen. Ständig stolpert man über seltsam antiquierten Jugendwortschatz. Essen wird „verputzt“ oder „gefuttert“, es wird „malocht“, Menschen werden „vermöbelt“, Jugendliche sind „Rabauken“, „Halbstarke“ oder „Kids“. Anstatt dass Figuren einfach weggehen, fliehen oder verschwinden, müssen sie „verduften“ oder „abzwitschern“. Weitere Beispiele ließen sich anführen (Auftritte haben: eine „üppige Oberweite“, ein „ungehobelter Rotschopf“, schließlich auch ein unbegreiflicher „Wutbürger“).

Das führt im schlimmsten Fall dazu, dass die Erzählung seltsam brav und harmlos klingt. So heißt es etwa über einen Mann, der sich mit besonderer Freude an der Folter der Jugendlichen beteiligt, er würde über das Anstaltsgelände „latschen“. Und ist es wirklich angemessen, dass ein junger Mann, der durch Isolation in einer dunklen Zelle gebrochen wird, danach als ein „Trauerkloß“ wieder durch die Welt geht?

Die Entscheidung von Übersetzung und Lektorat, die Erzählung im Deutschen streckenweise klingen zu lassen wie eine Dokumentation über westdeutsche Jugendkriminalität in den 1980er Jahren, nimmt dem Roman ein wenig von seiner politischen Schlagkraft. Das ist unerfreulich, zeigt aber auch, wie stark die politische Wirkung an ästhetische Fragen gebunden ist.

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