piwik no script img

Clinton bilanziert Gore nach vorn

In seiner letzten Rede zur Lage der Nation verkündet US-Präsident Bill Clinton noch einmal große Programme – als stünde er erst am Anfang ■ Aus Washington Peter Tautfest

Eineinhalb Stunden dauerte am Donnerstag abend die diesjährige Rede des US-Präsidenten Bill Clinton zur Lage der Nation. 190-mal wurde sie von Applaus unterbrochen. Zum achten und letzten Mal konnte Clinton vom bevorzugten Standort eines Podiums sprechen, das er in der Vergangenheit gut für sich zu nutzen verstand, und sich einer rhetorischen Form bedienen, die er beherrscht wie kaum ein Anderer. Es war seit langem die erste Rede Clintons zum „State of the Union“, die nicht von Skandalen überschattet war. Vor zwei Jahren trat er vor beide Häuser des Kongresses, als Washington sich anschickte, in den Sumpf des Lewinsky-Skandals zu versinken und Hillary darin eine „weit verzweigte rechte Verschwörung zum Sturz des Präsidenten“ gesehen haben wollte. Letztes Jahr trat Clinton vor einen Kongress, dessen Unterhaus ihn eines Staatsverbrechens angeklagt und dessen Senat die Klage gegen ihn zu verhandeln begonnen hatte.

Beide Male hatte es Clinton verstanden, die Plattform des jährlichen Rechenschaftsberichts zu nutzen, um seine Präsidentschaft zu retten. Seine eher detaillierten denn programmatischen Regierungserklärungen waren immer gut angekommen und hatten den Blick von den Ränken, Rankünen und Machtkämpfen auf die konkreten Pläne und Vorhaben der Regierung gelenkt.

„State of the Union“-Reden sind nicht die Plattform für große Visionen und rhetorische Glanzleistungen. Sie sind von Anlage und Form her Aufzählungen. Der Präsident zählt auf, was seine Regierung im letzten Jahr geleistet hat – „die Lage der Nation ist so gut wie noch nie in unserer Geschichte“ – und was er im nächsten Jahr erreichen will.

Im letzten Jahr seiner Amtsperiode, die offiziell im Januar 2001 endet, de facto aber bereits nach den Wahlen im November zu Ende sein wird, erwartete man eigentlich keine großen Initiativen mehr von ihm. Clinton aber entwarf ein großes Programm, als stände er erst am Anfang seiner Regierungszeit. Anders aber als bei Clintons Amtsantritt vor sieben Jahren ist der US-Haushalt heute durch Überschüsse inBillionenhöhe gekennzeichnet. Der Streit um die Beseitigung des Defizits ist dem Ringen um die Frage gewichen: „Wohin mit dem vielen Geld?“

Während die Republikaner den Überschuss als Steuersenkungen zurückgeben wollen, wollen Clinton und große Teile seiner Demokratischen Partei das Geld nutzen, um die Staatsverschuldung abzutragen, die staatliche Renten- und Krankenkassen zu sanieren und in Bildung und Gesundheitswesen zu investieren. Der Oppositionsführer im Senat, Trent Lott, sprach daraufhin von einer Rede, die pro Minute eine Milliarde Dollar koste. Doch Clinton hat ein untrügliches Gespür für das, was die Leute wollen. Auch die andere große Sorge vieler Amerikaner, die Angst vor Gewaltkriminalität und die weite Verbreitung von Schusswaffen, sprach Clinton an. Er versprach Amerika „zum sichersten Land der Welt zu machen“ – zur Zeit sterben durch Unfälle mit Schusswaffen in den USA neunmal mehr Jugendliche unter 15 als in 25 Industrieländern zusammen genommen. Clinton will Waffenscheine und Waffenscheinprüfungen für jeden einführen, der eine Waffe erwerben will.

Im Wahljahr sind Clintons Chancen, seine Programme durchzusetzen, gering. Der von der Opposition beherrschte Kongress wird dem scheidenden Präsidenten und seinem Vize Al Gore, der sich um die Nachfolge bewirbt, keine Erfolge gönnen, und wird lieber Gores Konkurrenten George Bush den Weg mit Steuersenkungen bereiten wollen.

Der Wahlkampf bestimmte deutlich den diesjährigen „State of the Union“, und legislative Arbeit wird in Jahr 2000 zum parteipolitischen Eiertanz werden. Keine Seite wird der anderen den Erfolg gönnen, keine aber darf sich dem Vorwurf der Obstruktion aussetzen. Jedes verabschiedete Gesetz beraubt die Partei, die es durchgesetzt hat eines Wahlkampfthemas, jedes verhinderte Gesetz, wirft ein schlechtes Licht auf jene, die es verhindert haben.

Außenpolitik kam in Clintons Rede erst 50 Minuten nach Redebeginn zur Sprache. Im Zentrum standen die Liberalisierung des Welthandels und die Sorge um Russland und China. Clinton verwies in ungewöhnlich langen Ausführungen zur Außenpolitik auf Erfolge. Im Nahen Osten, in Nordirland, auf dem Balkan, auf Timor hätten die USA zum Frieden beigetragen, sagte er.

Am Ende seiner Rede beschwor Clinton Amerikas Einheit in seiner Vielgestaltigkeit. „In 10 Jahren wird Kalifornien keine Mehrheitsrasse mehr haben, und in 25 Jahren wird es in ganz Amerika keine Rasse mehr geben, die in der Mehrzahl ist.“ In einer kleiner werdenden, aber höchst diversen Welt werde Amerikas ethnischer und nationaler Vielfalt sein Stärke sein. Da spendete auch die Opposition Beifall.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen