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■ Christo gehtMetamorphosen

Es gehört zu den Zaubereien der Natur, unter Hüllen merkwürdige Verwandlungen zu vollziehen. Die Entwicklung der Raupe zum Schmetterling in einem pelzigen Sack zählt dabei zu den besonderen Tricks. Die Metamorphose des Reichstags vom dunklen Monument zum silbrigen Megakunstwerk durch die Verhüllungsaktion Christos läßt sich einfacher erklären, war aber ebenso effektvoll. Die düsteren, schwerverdaulichen Steine des Wilhelminismus verschwanden allmählich unter dem fließenden Stoff zu einem hellen Environment, das nicht starr und abweisend, sondern beweglich und faßbar blieb. Der Reichstag wurde verwandelt zum temporären heiteren Spielzeug, dessen Projektionsfläche schiere Bewunderung und schrille Schreie, aber auch Brandpfeile, die Argumente vom touristischen Spektakel, vom Super-GAU der Kunst und purer Wichserei für die konsensfähigen Klein- und Großkopferten mühelos wegsteckte. Sicher ist nur eines: Während der Verhüllung durch den „Luis Trenker der Land-art“, wie Kunstmensch Christoph Tannert schimpfte, war der Reichstag ein anderes – ein schönes Wesen. Was nach der Enthüllung kommt, bleibt abzuwarten. Er wird aber nie wieder sein.

Doch auch vor der Hülle haben sich Metamorphosen vollzogen. Das Volk der Berliner hat sich im Licht der Hülle verwandelt, ja versöhnt. Wo Massenspektakel sonst zu Massenschlägereien ausarten: hier gaben sich selbst die Freiwillige Polizeireserve und Hausbesitzer friedlich. Es war ein wunderbares Bild, das sich die letzten vierzehn Tage und Nächte vor dem Reichstag zeigte. Die Bürger flanierten mit Kind und Kegel auf dem Platz der Republik auf und ab, als wäre er der Corso in Goethes „Carneval“. Frühstückspartys und Nachtmahle wurden vor Ort veranstaltet, Tänze zu Trommelwirbeln gedreht. Christomane lagerten in Schlafsäcken vor dem verpackten Bau. Wenn der Meister aufkreuzte, wurden die Supertele getestet. Man sah sich, und hauptsächlich die, die „auf keinen Fall den Scheiß-Christo“ angucken wollten, trafen sich dort immer öfter. Eine Free-Concert-Atmosphäre aus Jung- und Althippies sowie deren Gegenteilen legte sich am Abend über den Platz. Und selbst bei Regen und Wind lebte das Christo-Fieber weiter.

Es ist keine Frage, daß sich dort das Ideal von der Selbstfeier des Volkes eine kurze Zeit abspielte: friedlich, happy und mit ästhetischem Zauber. Ein armer Wicht, der anderes denkt. Zu Recht haben Christo und Jeanne-Claude die Würstchenbuden ausgeschlossen. Nichts war zu spüren vom sonstigen Bierdampf und Bulettenbrei, der sich üblicherweise auf Großveranstaltungen wie ein Nebel über alles senkt. Die Verhüllung wäre zum Rummel verkommen. Ab heute wird der Reichstag wieder enthüllt, der Stoff entsorgt. Das Feeling aber kann man nicht recyceln. Rolf Lautenschläger

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