: Chemie im Blut: völlig (un)normal
Kurz vor Abstimmung der EU-Chemikalien-Richtlinie tobt der Lobbyistenkampf. Gewinnen wird offenbar die Industrie
BRÜSSEL taz ■ Der Überzeugungskampf von Chemie-Industrie und Umweltverbänden geht in eine entscheidende Runde: Dienstag sollen der Industrie- und der Binnenmarkt-Ausschuss im EU-Parlament über die Chemikalien-Richtlinie Reach abstimmen. Reach regelt Erfassung und Risikobewertung aller in der EU hergestellten Chemikalien.
In Brüssel tobt der Lobby-Krieg: Die eine Seite versucht, Gefahren der Chemikalien herunterzuspielen, die andere das Gegenteil. Noch bevor die Umweltorganisation WWF ihre neue Studie zu Chemie im Blut überhaupt vorgestellt hat, konterte der Verband der Chemischen Industrie (VCI) gestern: „Die Untersuchung ist völlig unseriös“, so Gerd Romanowski, Chefwissenschaftler des VCI.
Der WWF hatte in den vergangenen Monaten einen Drei-Generationen-Test durchgeführt. Untersucht wurde das Blut von jeweils Mutter, Tochter, Großmutter in zwölf EU-Ländern. 40 Personen beteiligten sich insgesamt am WWF-Test. Zwar konnte gestern der WWF kein genaues Ergebnis bekannt geben. Chemie-Experte Karl Wagner rechnet aber „in jedem Fall“ mit eindeutigem Nachweis: „30 bis 50 Chemikalien können im Blut nachgewiesen werden.“ Getestet wurde auf 107 Chemikalien.
„Das ist völlig normal“, erklärt Michael Nasterlack, der beim VCI für die Risikoforschung zuständig ist. „Chemikalien sind überall und gehen beim Stoffwechsel durch den Körper. Deshalb sind sie aber noch lange nicht gefährlich.“ Die Konzentrationen seien dafür viel zu gering.
Der WWF sieht das allerdings anders. Der menschliche Körper sei ein sensibles System, auch kleinste Mengen können schädlich sein, so Karl Wagner. „Außerdem wissen wir bei vielen Stoffen noch nicht, was die langfristigen Auswirkungen auf den Menschen sind. Wie gefährlich eine kleine Stoffmenge tatsächlich ist, kann man heute also noch gar nicht sagen.“
Genau diese Ungewissheit soll sich mit der EU-Chemikalien-Richtlinie ändern. Ist die in Kraft, sollen alle Chemikalien registriert werden – mit umfassender Risikoabschätzung. Die Chemie-Industrie wehrt sich zwar nicht gegen eine Registrierung, möchte diese aber wesentlich schlanker gestalten als die EU-Kommission. Die Unternehmer fürchten hohe Kosten und Bürokratie.
Und offensichtlich haben sie bei den Parlamentariern ein offenes Ohr gefunden. Denn die Berichte, die am Dienstag den Ausschüssen vorgelegt werden, sind wesentlich unternehmerfreundlicher als die Ursprungsfassung. So sollen zum Beispiel die Chemikalien, von denen jährlich weniger als zehn Tonnen produziert werden, überhaupt nicht mehr erfasst werden. Das war ein direktes Anliegen der Industrie. Und die kann sich der Stimmen der größten Fraktion im Parlament sicher sein: der konservativen EVP.
RUTH REICHSTEIN