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Chatila ein Kulturschock

„Taschen auf“ kläfft einer der zehn syrischen Soldaten am Eingang zum palästinensischen Flüchtlingslager Chatila. Man ist natürlich vorbereitet, und so finden die eifrig wühlenden Finger nichts, was zu beanstanden wäre. Chatila ist ein Kulturschock. Soeben freuten sich die Sinne noch über das bunte Treiben auf dem Basar von Sabra, über das aufgetürmte Obst und Gemüse, über die kreischenden Verpackungen diverser Haushaltsartikel. Nach der ersten blutigen Runde im Lagerkrieg im vergangenen Jahr sind nur der Markt und die umliegenden Straßen wieder aufgebaut worden, der Rest des Lagers wurde kurzerhand plattgewalzt, Sabra Westbeirut eingemeindet. Chatila aber ist in allen Randgebieten Ruinenfeld geblieben, in mühsamer Kleinarbeit nur im Herzen wieder hergerichtet. „Für 500 Häuser fehlt die Renovierungsgenehmigung, Baumaterial wird nur von Zeit zu Zeit und in verschwindend kleinen Mengen durch die an allen Eingängen lauernden Kontrollposten gelassen“, erklärt Abu Sameh, der Verantwortliche für den Wiederaufbau. „Manchmal kommen nicht einmal Zigaretten durch.“ Keine Marktstände oder Geschäfte, keine auf den ersten Blick zu erheischende Lebensfreude. Aufrechter Gang Dr. Janu, Arzt und in einem früheren Leben Kanadier, bestätigt den längst registrierten Pulsschlag der ca. drei– bis fünftausend verbliebenen Menschen: Belagerungszustand, Burgmentalität. „Jeder Mann, jede Frau hier denkt strategisch. Nie wieder da stehen ohne Verteidigung, ohne ausreichende Lebensmittel, ohne Wasservorräte, ohne medizinische Versorgung. Selbst während des letzten Angriffs der schiitischen Amal–Milizen Anfang dieses Jahres ist niemand wegen mangelnder medizinischer Versorgung gestorben.“ Der schon zu Lebzeiten zur Legende gewordene Held des Operationstisches kann wahrlich stolz von der Erfolgsbilanz seines Feldlazaretts berichten. Aber auch die anderen Gesichter scheinen vom gemeinsamen Selbstbewußtsein verschönt, der Gang aufrecht, auch wenn sich die Lagerbewohner oft ducken müssen. Den Eindruck innerer Gelassenheit macht auch Abu Khalil, ein kräftiger Mann Anfang dreißig. Während er erzählt, daß er, wie die meisten anderen Männer, die feuchte Enge des Lagers schon seit Monaten nicht mehr verlassen hat, fallen mir seine fast restlos abgekauten Fingernägel auf. Man stelle sich vor, monatelang kein Hauch von Haschisch, immer die gleichen Gesichter, die gleichen Gassen. Ganz anders dagegen in diesen Tagen Westbeirut. Ein Gesicht, das oberflächlich lächelt. Am Freitag begann die Moaran–Zeit, ein besonders für die Schiiten wichtiges Fest. Die Männer schleppen trotz der erschreckenden Wirtschaftskrise pralle Einkaufstaschen, die Frauen schaffen trotz all des Kochens und Machens noch den Gang zum Friseur. Die Milizionäre aller Parteien haben die Kampfkleider gegen legere Sommeranzüge getauscht und die Waffen gleich mit im Kleiderschrank verstaut. Bis in den frühen Morgen schrappen die Stöckelschuhe durch Hamra, die zentrale Geschäftsstraße. Hier bändigen die paar hundert syrischen Kontrollettis, zumeist Angehörige militärischer Eliteeinheiten, den seit 1982 stetig gewachsenen Terror. Und die Soldateska aus dem Nachbarland gibt sich wider alle Befürchtungen erstaunlich zivil. Obwohl sie nicht wie vor der israelischen Invasion massenhaft und in schweren Militärstiefeln durch die Straßen poltern, sind sie doch auch ohne Uniform unschwer erkennbar. Der extrem kurze Haarschnitt läßt sich mit ziviler Kleidung nicht ausgleichen. Sie können auch ihr Vergnügen an westlicher Import– und Schmuggelware nicht verbergen. Während französische Parfums wie alle anderen Kennzeichen westlichen Luxus in Syrien gar nicht oder nur zu unverschämt hohen Preisen erworben werden können, bieten in Westbeirut Straßenhändler die meisten großen Marken an. Die syrischen Aufpasser haben sich vor Vergnügen wohl gleich reingesetzt. Seit zwei Monaten haben sie strategisch wichtige Punkte in Westbeirut besetzt, die offene Bedrohung durch die Milizen verdrängt. Extrem hohe Kleinkriminalität, Banküberfälle, vereinzelte Gefechte kleineren Kalibers und auch Autobomben mit geringer Wirkung gehören aber weiter zum Alltag. Selbst den lokalen Medien sind solche Zwischenfälle aber höchstens Kurzmeldungen wert. Optimismus verbreiten, heißt die Parole, den Frieden feiern wie er fällt. „Du wirst sehen, alles wird gut“, flötet es allenthalben. Erst beim genaueren Nachfragen zeigt sich, daß kaum jemand vom tatsächlichen Ende des Bürgerkrieges überzeugt ist. Im Westen beherrschen die Spannungen zwischen der schiitischen Amal und der extremistischen, Teheran–orientierten Hizballah das Geschehen hinter den Kulissen. Die Ost– und Westbeirut trennende „Grüne Linie“ wird weiterhin von den Bürgerkriegsparteien dominiert und ist somit für viele Menschen aus beiden Teilen unüberwindbar. Im Osten schließlich haben die seit einem Jahr immer wieder aufflackernden Machtkämpfe innerhalb der christlichen Falange–Partei Spuren der Zerstörung zurückgelassen. Auch hier können sich die Angehörigen der beiden Fraktionen nicht in die Stadtteile der gegnerischen Kraft wagen. Strohhalm Zeit kann weder im Osten noch im Westen eine Partei militärisch siegen, erst recht kann der Osten nicht den Westen besiegen oder umgekehrt. Von einer politischen Einigung kann gar keine Rede sein, das Kabinett hat bei seiner Sitzung in der vergangenen Woche lediglich die Fortsetzung der seit letztem Oktober unterbrochenen verbalen Auseinandersetzung beschlossen. „Das ist der Strohhalm, an den sich die Bewohner der Hauptstadt klammern, der Strohhalm eines Sterbenden“, urteilt einer der wenig verbliebenen westlichen Diplomaten. Der Kriegs– bzw. Besatzungszustand im Rest des Landes wird großzügig verdrängt, ja selbst der erneut drohende Konflikt auf der Schwelle der eigenen Haustür, die bereits zu ahnende dritte Runde im Beiruter Lagerkrieg bleibt in einer tiefen Schublade. Die Beirutis nutzen die Gunst der Stunde.

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