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Charmeoffensivkraft und Naturereignis

■ Eine Biographie in Briefen von Milena Jesenská, der Kafka-Geliebten

„Unverständlich, wie man fern von Dir sein kann“, schrieb Franz Kafka 1920 an seine tschechische Übersetzerin und Geliebte Milena Jesenská. Die Liebe zwischen den beiden war in höchstem Maße tragisch, wenn nicht unmöglich, eine der typischen kafkaschen Liebesgeschichten eben. Doch immerhin verdanken seine Verehrer dieser Verbindung einige der schönsten Briefe des Schriftstellers.

Kafka hat Milenas Briefe mit einem Naturereignis verglichen: „Ich bete zitternd und ganz besinnungslos in der Ecke, daß Du, wie Du in diesem Brief hereingebraust bist, wieder aus dem Fenster herausfliegen möchtest, ich kann doch einen Sturm nicht in meinem Zimmer halten.“ Und in der Tat zieht diese Frau alle Register: Sie lockt und schmeichelt, droht und schimpft, ist witzig und dabei immer menschlich. An ihren Redakteur Scheinpflug, dem sie eine Übersetzung von Stevensons Markheim anbot, schrieb sie: „Lieber, goldiger, einziger, geliebter, teuerer, gütiger, unbeschreiblich gütiger Herr Scheinpflug!Bitte, tun Sie mir den Gefallen!“ Welcher Redakteur hätte einer solchen Charmeoffensive widerstanden?

Die Briefe Milenas an Kafka sind leider nicht erhalten, doch ihre Briefe an Freunde und Kollegen hat ihre Biographin Alena Wagnerová jetzt herausgegeben. Diese, die ihre Biographin leider mit zu wenig einordnenden Anmerkungen versehen hat, geben Auskunft über das ganze außergewöhnliche Leben dieser Frau. Zwei gescheiterte Ehen, zahlreiche Liebhaber und unzählige Bewunderer. Und dabei blieb sie immer selbständig, arbeitete für ihren Lebensunterhalt und oft auch noch den ihres Mannes.

In den Briefen spiegeln sich alle Lebensphasen wider: Die kindliche Schwärmerei der Tochter aus gutem Hause für ihre Lehrerin. Ihre Euphorie in den frühen Zwanzigern, als sie in Wien beginnt zu übersetzen und Feuilletons zu schreiben und ihr permanenter Geldmangel. Ihre schwere Krankheit nach der Geburt ihrer Tochter Jana, als sie ihre Schmerzen mit Morphium betäuben muß und süchtig wird, ihre kurze Begeisterung für die KP Tschechiens und ihre zunehmende Verzweiflung, als Hitlers Truppen ihre geliebte Heimat besetzen. Aber auch ihr Widerstand, ihre Hilfe für die Freunde und Emigranten in Not, ihr Aufbegehren gegen die Mutlosigkeit und das Abstumpfen.

Die Deutschen, über die Milena in den Zwanzigern geschrieben hatte, sie „sind einfach unbeschreiblich widerliche Menschen, auch wenn man nicht weiß, was man ihnen eigentlich vorwerfen kann, höchstens eine Reihe von Korrektheiten“, wurden der Journalistin schließlich zum Verhängnis. Zwar konnte die Gestapo ihr nichts nachweisen, nahm sie aber trotzdem in „Schutzhaft“ im KZ Ravensbrück. Dort starb sie am 17. Mai 1944. Diemut Roether A. Wagnerová liest heute, Buchladen Osterstraße 156, 19.30 Uhr

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