■ Vorschlag: Charmante Endlosschleifen: Die Theaterwerkstatt Thikwa
Der Mann hält eine schmale Leiste senkrecht vor Nase und Stirn. Unendlich langsam, wortlos konzentriert läßt er sie an seinem Körper herabgleiten, über Brust, Bauch und Beine, bis zum Boden. „Ein anderer Teil des Waldes“, die fünfte Produktion des Theaters Thikwà, läßt den Darstellern viel Zeit. Neun Behinderte spielen mit vier Schauspielerinnen aus der freien Szene zusammen. Das Resultat ist ein sehr körperliches Theater, das neunzig Minuten fast ohne Worte auskommt. Und wenn die Schauspieler doch reden, sprechen sie in Diktaphone, die die Worte verzerrt wiedergeben.
Regisseur Peter Baer hat sich für seine Inszenierung von drei Shakespeare-Stücken anregen lassen: „Macbeth“, „Sommernachtstraum“ und „Othello“. Drei Urräume hat er aus den Dramen extrahiert – das Haus, das Bett, der Wald. Auf der Bühne werden diese Orte durch Eisengerüste und hölzerne Stellwände angedeutet. Zwei Monate lang hat Baer seine Schauspieler beobachtet, um ihre speziellen Bewegungsmöglichkeiten kennenzulernen. Erst dann begann die Arbeit an Szenen und Figuren. Da gibt es einen „fremden Sänger“, weil der Darsteller Wolfgang Fliege gern den weltgewandten Conférencier spielt – „Meine Damen und Herren, liebe Gäste!“ leiert eine charmante Endlosschleife vom Band –; da gibt es „die Lauernde“ Martina Nitz, die gelähmt ist, aber auf der Bühne – gestützt von den Mitspielern – ohne Rollstuhl auskommt; und da gibt es eine „Eingeborene des Raumes“, die unermüdlich mit erstarrtem Gesichtsausdruck Gerüste und Stellwände hin und her schiebt. Gespielt wird sie von der Regisseurin und Schauspielerin Christine Vogt, die die Theatergruppe vor sechs Jahren gegründet hat.
Den kaum merklichen Unterschied zwischen behinderten und nichtbehinderten Darstellern läßt einen das Zusammenspiel der beiden Gruppen rasch vergessen. Daß „echte“ Schauspieler mit ihnen zusammen auftreten, hebt das Selbstwertgefühl der Behinderten. Peter Pankow, der Mann mit der Leiste, ist nach der Premiere so aufgekratzt, daß er sich selbst zur Ordnung ruft: „Ich muß aufpassen, daß ich den anderen nicht die Show klaue. Ich rede immer wie ein Wasserfall.“ Auch die professionellen Schauspieler lernen aus der ungewöhnlichen Zusammenarbeit. „Man muß sich ungeheuer konzentrieren, sehr stark auf den Partner bezogen agieren“, sagt Erika Eller. Sie und die anderen drei Schauspielerinnen stecken in bodenlangen, viktorianisch anmutenden Kostümen, die jede Bewegung erschweren. Zusätzlich haben sie mit einer engen Röhre aus Filz zu kämpfen. Erika Eller zieht sie sich über den Kopf, zwängt den Oberkörper hinein, fesselt mit dem Filz ihre Beine an einen Stuhl. Das widerständige Material ist wie eine seltsame Prothese, die die Bewegungen des Körpers hemmt, statt sie zu erleichtern.
Die neun behinderten Darsteller sind Teilnehmer der Theater- Werkstatt Thikwà. Dieses 1995 gegründete, vom Bundesgesundheitsministerium finanzierte Modellprojekt ist in Deutschland einzigartig. Zwölf geistig und körperlich behinderte Menschen erhalten hier Schauspielunterricht, lernen aber auch die technischen Bereiche des Theaters kennen. Sie können ihre handwerklichen Fähigkeiten entwickeln, indem sie zum Beispiel an den Bühnenbildern mitarbeiten.
Eine Ästhetik der Langsamkeit wird durch die Darsteller vorgegeben, ohne daß die spezifischen Behinderungen in den Inszenierungen besonders hervorgehoben würden. „Wir versuchen, die Behinderungen weder zu kaschieren noch auszustellen – das ist eine schwierige Gratwanderung“, sagt Rainer Esche, Geschäftsführer der Theater-Werkstatt Thikwà. Jede Verkitschung der angeblich besonders authentischen Ausdrucksfähigkeit behinderter Menschen lehnt er ab: „Wenn Leute behaupten, die Behinderten hätten alles, was uns verlorengegangen ist – das ist Quark.“ Weil Thikwà die Integration soweit wie irgend möglich treiben will, wehren sich die Mitarbeiter auch gegen positive Diskriminierung. „Am liebsten würde ich an die Eingangstür schreiben: Behindertenbonus wird nicht gewährt!“ meint Rainer Esche.
„Ein anderer Teil des Waldes“ ist auch ohne Bonus sehenswert. Allerdings verlangt die Inszenierung den Zuschauern übermäßig viel Geduld ab. Die künstlerische Notwendigkeit der zahlreichen Wiederholungen und Variationen ähnlicher Bewegungsabläufe leuchtet nicht immer ein: An vielen Stellen hätte der Regisseur stärker auswählen und straffen können, ohne den Gesamteindruck zu verfälschen. Nur einige wenige Szenen werden durch die bildhafte Klarheit unvergeßlich, mit der sie abstrakte menschliche Grundsituationen – Liebe und Kampf, Konkurrenz und Gemeinschaft – konkretisieren. Sebastian Hilken spielt dazu süße Weisen und dissonante Phrasen auf einem selbsterfundenen Instrument, das aussieht wie ein löchriges Miniatur-Cello. Im „anderen Teil des Waldes“ ist eben alles anders als gewohnt. Miriam Hoffmeyer
19.-21. 6. und 23. 6., jeweils 20 Uhr in der Schiller Theater-Werkstatt, Bismarckstraße 110, Charlottenburg, und 27.-30. 6. jeweils 20 Uhr im carrousel-Theater an der Parkaue, Hans-Rodenberg-Platz 1, Lichtenberg. Karten für beide Spielorte unter 55775256.
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