: Chaotische Kreativität für die offene Gesellschaft
Atmosphäre Seit Jahresbeginn reist taz.meinland durch die Republik und fragt nach der „neuen Heimat“. Das taz.lab 2017 widmete sich derselben Frage. Mit Gesprächen am „runden Tisch“ und einem ungewöhnlichen Veranstaltungsort war es auch ein Experiment
von Nora Belghaus
Konstruktives Chaos ausdrücklich erwünscht – mit etwa diesen Worten eröffnet Jan Feddersen, „Redakteur für besondere Aufgaben“ und Kurator, das taz.lab 2017 mit dem Motto „Neue Heimat“.
Während das taz.lab die vergangenen Jahre im Berliner Haus der Kulturen der Welt stattfand, versammelte man sich 2017 im kleineren Redaktionsgebäude der taz in der Rudi-Dutschke-Straße. Trotzdem hatte es einiges zu bieten. Wie in einem Ameisenbau wuselten an die 300 taz-Freund_innen umher und diskutierten mit über 40 taz-Pat_innen über Demokratie, Identität und Heimat. Konzepte, mit denen sich auch das Projekt taz.meinland schon seit Ende letzten Jahres auseinandersetzt, in dem es durch das Land reist, um Fragen zu stellen und Antworten zu hören.
Nach dem „Weckruf“ von Chef-Redakteur Georg Löwisch und „Mr. tazlab“ Jan Feddersen um kurz vor neun geht es los. Obwohl schon fast der Mai ins Haus steht und sich die Sonne sogar ab und zu blicken lässt, ist die Luft kühl. Das unbeheizte Außenzelt, in dem Esra Küçük, Leiterin des Gorki-Forums in Berlin, mit anderen über „das neue deutsche Wir“ spricht, ist trotzdem gut besucht.
So offen Thema, Tür und Tor, so offen auch das Format der Gespräche. Nach dem „Küchentisch-Prinzip“ reihen sich die Sitzreihen für das Publikum an jedem Ort um einen großen Tisch herum. An dem haben jedoch nicht nur Moderierende und Referent_innen Platz, sondern auch die Gäste. Diese sind bei diesem taz.lab dazu aufgefordert, aktiv mitzumischen. Das funktioniert in den meisten Fällen ziemlich gut. Zum Beispiel im Konferenzraum, wo am Vormittag Politologe Helmut Däuble und Besucher*innen zusammensitzen und angeregt über soziale Gerechtigkeit, Umverteilung und die Rolle der Politik diskutieren.
Im Anschluss sagt die Besucherin Ursula Busch, sie habe sich zwar nicht aktiv an der Diskussion beteiligt, sich aber zwischendurch „ganz schön über den hochmoralischen Ton aufgeregt“, als über „die Reichen“ gesprochen worden sei. Die Feindbilder seien zu plakativ gewesen.
Zum „Sichaufregen“ sagt sie aber auch: „Insofern war es eine richtig gute Veranstaltung, denn sie hat die Leute angeregt. Darum geht es ja schließlich hier.“ Sie ist 58 Jahre alt und „schon immer“ taz-Abonnentin. Sie hat bisher mit wenigen Ausnahmen alle taz.labs besucht.
Zur Mittagszeit nimmt das Gewusel noch einmal an Fahrt auf. Zwei Foodtrucks stehen nun vor dem taz-Gebäude und versorgen Besucher_innen mit Mittagessen. Einem Ehepaar aus Münster ist ein Ungleichgewicht aufgefallen: „Wir vermissen die jungen Leute und ihre Sichtweisen hier. Wo sind die nur abgeblieben?“, fragt Walburga Neubert, 67 Jahre. Auch als um kurz nach 13 Uhr auf der Konferenzetage eine riesengroße Torte mit der Aufschrift „25 Jahre taz-Genossenschaft“ angeschnitten wird, reihen sich darum vor allem ältere Genossen und Genossinnen.
Doch da, im Nebenraum, sitzt ein junger Mann auf einem Stuhl und wartet auf die nächste Veranstaltung. Anselm Denfeld ist 19 Jahre alt. Er ist allein gekommen. Seine Freunde lesen kaum Zeitung. Seine Eltern aber seien taz-Abonnent*innen, daher lese er die taz, seit er denken könne. Es ist sein erstes taz.lab. Im Pavillon ganz oben unter dem Dach hatte er gerade über Politik diskutiert: „Das war echt cool und eine erfrischende Abwechslung zu den YouTube-Kommentaren im Internet.“
Mit voranschreitender Tageszeit senkt sich der Altersdurchschnitt ein wenig. Die Langschläfer_innen mischen sich unter. Auf der „Grünfläche“, im Außenzelt, findet um 18 Uhr die letzte Veranstaltung statt. Die „Wahrheit“ lädt zu einer Lesung feinster satirischer Texte und einer gemeinschaftlichen Spirituosenverköstigung ein.
Mit dabei sind taz-Kolumnist Uli Hannemann, Schriftsteller und Reptilienwissenschaftler Heiko Werning, die Autorinnen Jenni Zylka und Pia Frankenberg sowie Wahrheit-Redakteur_innen Harriet Wolff und Michael Ringel.
Die Kälte im Zelt ist schnell vergessen, die Stimmung könnte kaum besser sein. Nachzügler_innen rümpfen die Nase beim Betreten des Zeltes. Reihum werden Texte gelesen, gefühlt alle fünf Minuten stößt jemand versehentlich eine Flasche um.
Es hat etwas ungewollt Slapstickartiges. So endet das taz.lab, wie es angefangen hat: mit einem konstruktiven Chaos und altersmäßig doch noch ausgewogenem Publikum.
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