: Castor-Protest schiebt die Politiker an
■ Jetzt will Bundesumweltministerin Merkel mit der SPD über die Lagerung von Atommüll sprechen. Auch Stromkonzerne und Polizei verlangen einen Entsorgungskonsens. Bürgerinitiative hofft auf Ausstiegsdebatte
Hannover (taz) – „Unser Protest gegen den Castor-Transport hat die Debatte um die weitere Nutzung der Atomenergie erneut eröffnet“, so bilanzierte für die BI Lüchow-Dannenberg gestern Wolfgang Ehmke „den Pyrrhussieg des Atomstaates im Wendland“. In der Tat haben die Blockadeaktionen gegen den Gorleben-Transport selbst Angela Merkel und auch die Energieversorger beeindruckt. Die Bundesumweltministerin will jetzt immerhin Gespräche mit der SPD über die Atommüllentsorgung zügig vorantreiben. Diesen Entsorgungskonsens mahnten auch die Vereinigung deutscher Elektrizitätswerke und der Chef der Gewerkschaft der Polizei, Hermann Lutz, an. Kanzleramtsminister Friedrich Bohl forderte, „ein Großteil der Schäden sollte schon von den Demonstranten eingeklagt werden“.
In Niedersachsen verlangten Ministerpräsident Gerhard Schröder und dessen Innenminister Gerhard Glogowski gleichermaßen, über den Konsens weitere Gorleben-Transporte überflüssig zu machen. Bundesumweltministerin Merkel nannte die Lagerung von abgebrannten Brennelementen direkt an den Kraftwerksstandorten, wie sie etwa auch Greenpeace vorschlägt, „interessant“. Durch eine solche Lagerung würden allerdings nur die Brennelementtransporte aus Süddeutschland, nicht aber die Transporte von Abfällen aus der Wiederaufarbeitung nach Gorleben überflüssig werden. Die Sprecherin von Angela Merkel betonte gestern, daß auch bei einer Lagerung von Brennelementen an den Kraftwerksstandorten langfristig etwa 110 Castor-Transporte mit WAA-Müll aus La Hague und 30 aus dem englischen Sellafield in die deutschen Zwischenlager anstünden. Der Präsident der Vereinigung der deutschen Elektrizitätswerke, Heinz Klinger, nannte allerdings eine Verschiebung des weiteren Rücktransports von WAA-Müll „denkbar“.
Niedersachsens Innenminister Gerhard Glogowski versprach in seiner Bilanz des Polizeieinsatzes, auch künftig Castor- Transporte nach Gorleben brav zu exekutieren. Glogowski wünschte lediglich „keine weiteren Gorleben-Transporte“ und mahnte mit den Worten „ein kluger Rechtsstaat geht nicht mit dem Kopf durch die Wand“ zumindest ein Moratorium für die Gorleben-Transporte an. Gorleben habe als Endlagerstandort hohe Symbolkraft, der Widerstand sei dort stark verwurzelt. Deswegen sei dort eine Zeit der Ruhe notwendig.
Den Einsatz im Wendland nannte Glogowski trotz des Wasserwerfer- und Knüppeleinsatzes gegen friedliche Sitzblockierer „verhältnismäßig“. Seinen Angaben nach waren allein am Mittwoch im Landkreis Lüchow-Dannenberg 14.000 Polizisten und Grenzschützer im Einsatz. Während der insgesamt sechs Transporttage seien insgesamt 56 Castor-Gegner fest- und weitere 205 meist kurzzeitig in Polizeigewahrsam genommen worden. Während des Einsatzes haben sich nach Angaben des Innenministers insgesamt 70 PolizistInnen verletzt.
Die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg, die bündnisgrüne Landtagsabgeordnete Rebecca Harms und auch das Komitee für Grundrechte und Demokratie, das zahlreiche Beobachter ins Wendland entsandt hatte, kritisierten gestern den Polizeieinsatz als völlig unverhältnismäßig. Nach Angaben der Grünen-Abgeordneten hat die Polizei insgesamt 300 Castor- Gegner verletzt. Drei AKW-GegnerInnen mußten mit schweren Kopfverletzungen in Spezialkliniken verlegt werden. Ärzte, die sich an die BI gewandt haben, gehen davon aus, daß eine Reihe von Augenverletzungen auf Gasbeimischungen bei Wasserwerfereinsätzen zurückgehen. Solche Beimischungen sind in Niedersachsen verboten. Jürgen Voges
Siehe auch Seite 11, Kommentar Seite 10
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen