Cansın Köktürk zur Sozialpolitik: „Es geht um echte Menschen!“

Es ist Zeit, die wirklichen Probleme anzupacken, sagt die Sozalarbeiterin Cansın Köktürk. Hat sie Hoffnung in die Politik? Eher nicht.

Portrait von Cansin Köktürk

Politiker*innen brauchen den Kontakt zur Basis – ihnen muss endlich klar werden, für wen sie stehen Foto: Jo Kirchherr

taz lab, 31.03.2023 | Von ALISA ISABELLA NEUGEBAUER DA SILVA SARMENTO

taz lab: Sie sind Sozialarbeiterin, politisch aktiv und haben gerade ein Buch geschrieben, „Unsozialstaat Deutschland“. Klingt nach Stress. Wie sieht ihr Alltag aus?

Cansın Köktürk: Ich bin nach wie vor Sozialarbeiterin. Ich bin politisch ehrenamtlich bei den Grünen tätig, das heißt, ich habe kein Mandat, aber gehe meistens zu den Veranstaltungen und ich bin im Länderrat. Mein Alltag besteht darin, dass ich aufstehe, mit meinem Hund rausgehe und zur Arbeit fahre. Und dazwischen, vor allem abends, ist dann Zeit für Aktivismus. Ich bin bewusst als Sozialarbeiterin in die Politik gegangen, weil ich genau das aus meinem Alltag brauche. Mit Praxiserfahrung kann man sich mehr für die Dinge einsetzten, als wenn man komplett davon abgeschottet ist. Ich liebe meinen Job und mache das einfach unfassbar gerne.

Hat das Schreiben dieses Buches ihre Arbeit als Sozialarbeiterin verändert?

Cansin Köktürk ist Sozialarbeiterin, Autorin, Aktivistin und Mitglied bei den Grünen.

Sie wurde 1993 im Ruhrgebiet geboren und war als Sozialarbeiterin und später als Heimleiterin in einer Notunterkunft für Geflüchtete, obdachlose und suchterkrankte Menschen tätig. Sie arbeitet aktuell in der Schulsozialarbeit und gründet nebenbei ihre eigene aufsuchende Obdachlosenhilfe.

Foto: Jo Kirchherr

So, dass ich noch überzeugter bin, weiterzumachen mit der Sozialarbeit. Reflektierend habe ich gemerkt, dass schwierige Sachen passiert sind, aber auch gleichzeitig viele gute Dinge, die durch die Soziale Arbeit bewegt werden können.

Sie fordern Chancengleichheit für arbeitslose Menschen, eine Abschaffung der Sanktionen und die Erhöhung des Bürgergeldes. Wird denn in Ihrer Partei auf diese Forderungen eingegangen?

Ich hatte die Hoffnung damals mit Habeck und Baerbock an der Spitze, dass wir diese Forderungen einhalten können. Ich habe selbst Wahlkampf gemacht und versucht Leute auf der Straße zu überzeugen, die Grünen zu wählen, damit all das passieren kann. Dafür standen wir schließlich. Unser Wahlprogramm hat das hergegeben, sonst wäre ich definitiv nicht Mitglied geworden. Das sind die zentralen Werte, die ich fordere.

Das 9-Euro-Ticket wäre ein super Schritt gewesen, ein tolles Zeichen, um zu zeigen, dass Teilhabe und Mobilität genauso wie Umweltschutz ernst genommen werden, und daraus ist nichts geworden. Die nächste Hürde wird die Kindergrundsicherung sein. Lindner hat sich dazu aber auch schon geäußert, dass es schwierig werden könnte. Wenn wir das durchsetzen können, wäre das schon ein großer Schritt. Aber ob ich viel Hoffnung habe? Eher nicht.

Was, denken Sie, braucht es, um in der Sozial- und Asylpolitik etwas zu verändern?

Damit sich überhaupt etwas verändert, braucht es ein Bewusstsein für die wirklichen Probleme. Deswegen ist es wichtig, dass Menschen aus der Basis in der Politik dabei sind. Menschen, die verstehen, was die wirklichen Probleme sind, die Leute jeden Tag beschäftigen. Ich habe das Gefühl, dass Po­li­ti­ke­r*in­nen das noch nicht verstanden haben und die Probleme der Menschen dafür benutzen, gewählt zu werden, sie aber letztlich nicht wirklich ernst nehmen. Man sollte Po­li­ti­ke­r*in­nen klarmachen, für wen sie stehen, warum sie eigentlich Politik machen und wer sie gewählt hat. Ich glaube, dass man dann endlich Sachen klar beschließen kann.

Können Sie mir konkrete Beispiele nennen?

Beispielsweise in der Asylpolitik legale Fluchtwege zu schaffen. Denn dann geht es nicht nur um Zahlen, sondern um echte Menschen, die auf dem Mittelmeer sterben. Ich glaube, dass die Menschen in der Regierung es nicht raffen, mal hart gesagt. Anders kann ich es mir einfach nicht erklären. Das einzige Argument sollte doch sein, dass es jedem Menschen gut gehen muss und dass jede Streitigkeit bei der Menschlichkeit enden sollte. Unser Hauptargument sollte sein, die Dinge in Gang zu bringen. Klar muss man auch das Geld finden, um das alles finanzieren zu können, aber es ist ja nicht so, als ob wir die Geldquellen nicht hätten: beispielsweise eine Vermögenssteuer, Erbschaftssteuer oder Vermögensabgabe.

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Wie ermutigen Sie Menschen, die in die Soziale Arbeit gehen möchten, und was hat Sie selber dazu bewegt?

Ich muss immer grinsen, wenn ich über die Soziale Arbeit rede. Es ist wie eine Beziehung, die man führt. Es gibt Tage, wo man sich denkt: ich kann nicht mehr. Dann gibt es aber auch Tage, die mir zeigen, dass ich etwas mit Mehrwert mache. Ich verdiene nicht nur mein Geld und zahle meine Miete, sondern kann mit Wachsamkeit und Hingabe Menschen unterstützten. Ich kann nicht einfach vorbei gehen, wenn es jemandem nicht gut geht. Soziale Arbeit ist politisch und knüpft an Ungerechtigkeiten an, und wenn ich schon keine Kanzlerin bin, kann ich wenigstens in meinem kleinen Kosmos die Welt ein bisschen besser machen.

Cansin Köktürk spricht auch auf dem taz lab: Konferenzaum, 15 Uhr.