: COCKTAIL-NOMADEN
■ Wie fehlende Stühle die Zirkulation des Small talks erzwingen
erzwingen
Amerikanische Universitäten sind gastfreundliche Universitäten. Und so vergeht in den ersten Wochen eines Gastspiels auf ihrem Terrain kaum ein Tag, an dem den ausländischen Besuchern nicht eine Einladung zu irgendeinem Empfang erreicht. Dekan Y, Dekan X, Präsident Z - sie alle geben sich „freundlicherweise die Ehre, um das Vergnügen unserer Gesellschaft zu bitten“, allerdings meistens - in diesem Punkt ist man präziser als bei uns - nicht etwa, sagen wir, ab 18 Uhr, sondern von 18 bis 20 Uhr: terminierte Gastlichkeit also. Immerhin: Die Dinge drohen so nicht ins Marathonmäßige auszuufern. Und dafür wird man nach einiger Zeit noch dankbarer, als man es für die Einladungen selber war. Denn bei besagten Empfängen handelt es sich in der Regel um die schöne Einrichtung der Stehempfänge. Nicht, daß es dabei an Speisen oder Getränken, alkoholischen und nichtalkoholischen, fehlte: Amerikanische Gastlichkeit schließt beides meist in Hülle und Fülle ein. Was aber fehlt, das sind die Stühle.
Das schafft Raum, natürlich; und wichtiger, es gestattet nicht nur, es provoziert geradezu zwingend die Zirkulation der Cocktail-Nomaden. Und damit fördert es höchst suggestiv die erwünschte Kommunikation.
So weit, so gut und so effektiv. Die Seßhaftigkeit der Stuhlinhaber und der Coucheckenbesitzer hat hier keine Chance. Schon zur Empfangshalbzeit aber signalisieren die geschädigten Bandscheiben ihre ununterbrochene Mißhandlung. Und spätestens an diesem Punkt beginnt ihr malträtierter Inhaber auch ein anderes Mißbehagen deutlicher zu empfinden, das ihn undeutlich von Anfang an irritiert hatte. In irgendein Gespräch verwickelt, das keineswegs immer auf einen Small talk geschrumpft sein muß, fällt ihm auf, daß die Kommunikationsfreudigkeit der Cocktail-Nomaden keinerlei Grenzen kennt. Denn auch wenn sie die Füße noch nicht bewegen, sind die Blicke immer in Bewegung. Keine Augen, die nicht wanderten; kein Gesprächspartner, der nicht über den Kopf des Seinigen hinweg permanent auf der Suche nach weiteren Gesprächspartnern wäre. Die aber sind ihrerseits in genau derselben Weise permanent unterwegs. Und so ergibt sich das schöne Resultat, daß Leute mit ihren Blicken Leute suchen, die mit ihren Blicken Leute suchen, die mit ihren Blicken Leute suchen - und so fort. Mit anderen Worten: Niemand kommt jemals wirklich bei einem anderen an, zu schweigen davon, daß jemand mit seiner Konzentration wirklich bei einem anderen bliebe. Kurz: Kommunikation wird generell zum Synonym für eine buchstäblich zunehmende Halt -Losigkeit, Konzentrationsunfähigkeit und Leere. Doch dieses harsche Resultat ist keines, mit dem sich ein eingeladener Gast bedankt, keineswegs eines, mit dem er seine Ko-Nomaden konfrontierte. Womöglich leidet er auch nur unter seiner persönlichen Empfindlichkeit und verzögerter Anpassung.
Kein Zweifel jedenfalls, daß die Cocktail-Nomaden nicht nur hier, sondern inzwischen überall in der Welt unterwegs sind. Kein Zweifel auch, daß gerechterweise allen das gleiche wiederfährt. Und so behält er seine Bandscheiben-Philosophie für sich - wenigstens solange, bis er sie, zurückgekehrt auf den heimischen Schreibtischstuhl, formuliert. Denn das will er auf keinen Fall bestreiten: Kommunikation tut tatsächlich not.
Ludger Lütkehaus
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