Bundeskongress der Gewerkschaften: Warnung vor griechischen Verhältnissen
Am Montag wurde DGB-Chef Michael Sommer wiedergewählt. Doch seine Grundsatzrede in Berlin fiel wenig angriffslustig aus. Erst Verdi-Chef Bsirske brachte das Publikum in Fahrt.
BERLIN taz | Der zweite Tag des Bundeskongresses des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Berlin begann mit einer Überraschung: Nur wenige hatten damit gerechnet, dass DGB-Chef Michael Sommer am Montag so eindeutig in seinem Amt bestätigt werden würde: Er erhielt 94,1 Prozent der Delegiertenstimmen.
Das gute Wahlergebnis - 2006 stimmten nur 78,4 Prozent für den Gewerkschaftschef - mag nicht nur Ausdruck davon sein, dass Sommer sich den Verdienst erworben hat, den DGB in den letzten Jahren zusammen gehalten zu haben. Es spricht auch dafür, dass der Dachverband der Gewerkschaften Geschlossenheit und Stärke bewahren will angesichts der aufziehenden Schulden- und Euroraumkrise.
In seiner Grundsatzrede nahm Sommer eine soziale und gesellschaftliche Bestandsaufnahme Deutschlands vor. Er kritisierte eine Audkündigung des sozialen Ausgleichs und eine aus den Fugen geratene soziale Ordnung. "Die traurige Wahrheit ist: Die Starken wollen keine Verantwortung mehr für die Schwachen übernehmen", so Sommer. Auch Armutslöhne, die Schieflage in den sozialen Sicherungssystemen und die Rente mit 67 greift der alte und neue DGB-Chef an: "Solange es keine Arbeitsplätze für die Älteren gibt, ist die Rente mit 67 nur ein Rentenkürzungsprogramm."
Am Tag zuvor hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel vor den Delegierten die Rente mit 67 angesichts des demographischen Wandels als unverzichtbar dargestellt. Sommer hielt in seiner Rede dagegen: "Nicht die Demographie ist das Problem, sondern die systematische Schwächung des gesetzlichen Umlagesystems." Er erinnerte daran, dass die Kosten der deutschen Einheit statt aus Steuern, aus den Sozialversicherungen bezahlt wurden: "Aus der so verursachten Schieflage hat sich die Rentenversicherung bis heute nicht richtig erholt."
Auch beim Thema Mindestlöhne stellte der DGB-Chef den Dissens mit der Kanzlerin klar. Merkel hatte sich vor den Gewerkschaftern gegen einen bundesweiten Mindestlohn ausgesprochen. Sommer hielt dem entgegen, dass für Freiberufler wie Ärzte, Anwälte und Notare per Rechtsverordnung Mindestentlohnungen festgeschrieben würden. Er betonte daher die Notwendigkeit eines Mindestlohns: "Ich kann nicht einsehen, warum ein menschenwürdiges Entgelt nicht auch allen anderen zustehen soll", so Sommer.
Der DGB-Chef betonte, dass der Weg über ein "gerechteres und gesamtwirtschaftlich stabileres Wirtschaftsmodell" über die Regulierung der Finanzmärkte führen müsse. Er warnte davor, die Kosten der Krise durch Kürzungen bei den öffentlichen Dienstleistungen, der Renten und der Sozialleistungen "allein auf die kleinen Leute" abzuwälzen: "Wenn sich diese Gesellschaft immer weiter spaltet, laufen wir Gefahr, mitten in eine Gesellschafts- und Staatskrise hineinzuschlittern und deren Folgen für Demokratie, Stabilität und auch den Frieden können wir gar nicht ermessen."
Um gegenzusteuern, forderte Sommer ein Verbot von so genannten Leerverkäufen und von dem Handel mit Kreditausfallversicherungen, eine Kontrolle von Rating-Agenturen und eine Finanztransaktionssteuer in Europa. "Wenn das fürs Erste nicht durchsetzbar ist, dann muss die Bundesregierung sich wenigstens für eine nationale Börsenumsatzsteuer entscheiden, wie sie in andere europäischen Ländern einschließlich Großbritannien längst erhoben wird", kritisierte Sommer die Zurückhaltung der Regierung.
Doch der DGB-Vorsitzende sprach weniger angriffslustig und leidenschaftlich als am Sonntag in Anwesenheit der Kanzlerin. Manch ein Gewerkschafter hätte statt langer Analysen des Ist-Zustandes wohl lieber gehört, wie man das Ziel, eine neue Ordnung zu schaffen, denn konkret angehen will. Und so ist es an Verdi-Chef Frank Bsirske die Stimmung im Saal zumindest kurzfristig anzuheizen. "Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt" zitiert Bsirske die Kanzlerin und ruft in den Saal: "Wer ist wir? Die Arbeitslosen, die Eltern, die auf Kitaplätze hoffen?"
"Die eigentliche Zuspitzung der kommunalen Finanzkrise kommt erst noch", warnt der Chef der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft. "Die Finanznot läuft auf Entlassungen und Lohnkürzungen hinaus, kurz: auf griechische Verhältnisse. Das ist aber nicht gottgegeben", redete sich Bsirske in Fahrt. Seine Forderung nach einer höheren Besteuerung der Kapitaleinkünften quittierten die Delegierten mit lebhaftem Applaus und Ausrufen.
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