piwik no script img

Bürokratisch und entmündigend

betr.: „Schöne Bescherung für arme Familien“ von Christian Füller, taz vom 15. 12. 99

Das Hin und Her bei der Debatte um die Anrechnung der Kindergelderhöhung auf die Sozialhilfe von Familien mit Kindern spiegelt die bürokratische und entmündigende Struktur der Sozialhilfegesetzgebung wider: Wer „mittellos“ geworden ist, erhält das Nötigste zum Leben. Bei der Berechnung des Bedarfes, der sich zusammensetzt aus den Mietkosten und dem Regelsatz für jedes Haushaltsmitglied in Berlin für Alleinlebende und den Haushaltsvorstand 547 Mark, für Haushaltsangehörige ab neunzehn Jahren 438 Mark, für Kinder: zwischen null und sieben mit zwei Erwachsenen 274 Mark, zwischen null und sieben mit einem Erwachsenen 301 Mark, zwischen acht und vierzehn 356 Mark, zwischen fünfzehn und achtzehn 492 Mark, wird jede eigene Einnahme vom errechneten Bedarf abgezogen: Wohngeld, geringfügiges Erwerbseinkommen, Arbeitslosenhilfe und eben auch das Kindergeld, so dass jede Erhöhung nicht den EmpfängerInnen, sondern den Finanzdezernenten der Gemeinde zugute kommt.

Der Versuch, per Gesetz 20 Mark (wie großzügig!) anrechnungsfrei zu lassen, ist der Gesetzgebung zuwiderlaufendes Flickwerk und deshalb auch in sich wenig überzeugend. Viel logischer wäre die Anhebung des Sozialhilferegelsatzes auch für Kinder unter sieben Jahren auf 356 Mark, die Summe, die der Gesetzgeber ohnehin als Sozialhilfebedarf für Kinder zwischen acht und vierzehn Jahren berechnet hat. Noch viel besser wäre natürlich die Einführung der von Bünd- nis 90/Grüne fundiert entwickelten Grundsicherung mit einem bedarfsdeckenden Anteil für Kinder und eine zielgerichtete Beschäftigungsförderung für Eltern. Die umständliche Antragsgewährung der Sozialhilfe, die symbolisch das Vorzeigen der „leeren Taschen“ erfordert und, vorsichtig formuliert, nicht zur Selbstwertsteigerung der KlientInnen führt, ist zeitlich lange überholt. Das Bundessozialhilfegesetz entstand zu einer Zeit, als es Einzelfallhilfe für wenige, aufgrund unglücklicher Umstände durch alle Netze gefallenen Menschen war. Als mittlererweile vierte Säule im Sozialsystem ist dringende Überholung erforderlich. Es wäre zu schön, wenn die rot-grüne Bundesregierung zu diesem Kraftakt den Mut aufbrächte, dann hätte sich der Streit um 20 Mark Anrechnung oder Freilassung erledigt!

Martina Schmiedhofer, Sozial- und Gesundheitsstadträtin

Berlin-Wilmersdorf (B 90/Grüne)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen