Bücher über legendäres Festival: Gesamtkunstwerk Woodstock
Zwei neue Woodstock-Bücher: Eines beschäftigt sich mit der Geschichte des Festivals, das andere damit, was auf der Bühne geschah.
Wenn man nur die Zahlen nimmt, ist es verständlich, dass "Woodstock" als die Mutter aller Rockfestivals gesehen wird. Doch der Ausdruck Rockfestival triffts heute nicht mehr gut, Woodstock war ein Gesamtkunstwerk, in dem Gefühl, Haltung, Verbundenheit, Protest wohl stärker waren als die Kunst. 170 Kilometer von New York entfernt begann die Show mit Richie Havens am frühen Abend des 15. August 1969. Eine halbe Million Menschen waren dabei, und grob geschätzt noch mal so viele wurden von Cops und anderen Umständen daran gehindert, zu ihnen zu stoßen. Das überstieg die Erwartungen der Firma Woodstock Ventures um ein Mehrfaches. Diese Masse war weder zu kontrollieren noch ausreichend zu bedienen, und das dabei entstandene Chaos war, was Kulturveranstaltungen betrifft, ebenfalls weltrekordverdächtig - ach was, Unsinn, es war halb so wild. 50 Nazis, die man heute irgendwo frei herumhängen lässt, richten mehr Schaden an.
Woodstock hatte einen Unfalltoten zu verzeichnen. Ein paar tausend wurden, zumindest vorläufig, erfolgreich medizinisch betreut. Kein wütender Farmer benutzte seine Flinte. Von Vergewaltigungen ist nichts bekannt, und "sogar Sonny Bargers Putztruppe" namens Hells Angels "lässt sich einlullen von der geselligen Stimmung hier, wird von der Menge einfach absorbiert und neutralisiert", schreibt Frank Schäfer in seinem Buch "Woodstock 69".
Ich denke, das muss man erwähnen. Und der wachsenden Zahl von Gestalten jeden Alters, die der sogenannten Woodstock- oder 68er-Generation die Schuld an den unfassbar vielen verletzten Seelen und kaputten Sitten in Deutschland oder den USA geben, mit Elvis Costello antworten, der nicht zufällig 1979 Nick Lowe zitierte: "Whats so funny bout Peace, Love and Understanding?" Sage ich, der ich, als Woodstock geschah, neun Jahre alt und erst etwa 1976 in der bayerischen Provinz zwangsläufig von Album und Film eine Zeit lang fasziniert und angeturnt war. Bald war Woodstock nur noch ein Kulturphänomen, das mich in den Spiegelungen von Autoren wie Hunter S. Thompson und Nick Tosches beschäftigte und vor allem in Ed Sanders Untersuchung über den Zusammenhang von Hippiekultur und Charles Manson, dessen "Family" eine Woche vor Woodstock die Schauspielerin Sharon Tate und andere ermordeten. Also, Woodstock und ich? Obwohl ich jetzt Mike Wadleighs Directors Cut unbedingt im "Fännsäh" (Fanny Müller) hatte sehen wollen, schlief ich nach einer Stunde ein.
Und dennoch, ich kann es absolut stark fühlen: Ich würde mich lieber mit diesen Hippies im Schlamm wälzen und Joe Cocker hören, als am Arm des Dr. zu Guttenberg in Bayreuth einmarschieren, und ich würde mich in meinen dreckigsten Cowboystiefeln auf den Wohnzimmertisch von Christoph Schlingensief stellen und ihm das erklären.
Selbst das von einem Unwetter verursachte Durcheinander war zu schwach, um die Produktion von fast 50 Stunden Livemusik zu verhindern und die daraus folgende Flut von Stoff davon und darüber. Allein jetzt zum 40. Jubiläum sind in den USA mindestens 19 Bücher zur Masse der vorhandenen Woodstock-Literatur dazugekommen, darunter ein "Guitar Songbook", das Drehbuch zum kommenden Ang-Lee-Film "Taking Woodstock" und die Erinnerungen der Tochter von Max Yasgur, der sein Land für die Jugend und 50.000 US-Dollar hingegeben hatte. Und sechs neue Bücher gibts auf Deutsch.
Es war der Untertitel von "Making Woodstock", der mich wieder animierte: die Geschichte des Festivals, "erzählt von denen, die es bezahlt haben", im Original bereits 1974 mit dem Titel "Young Men With Unlimited Capital" erschienen. John Roberts hatte "ein paar Millionen" geerbt, Joel Rosenman, Sohn eines prominenten Kieferorthopäden, war Anwalt; beide Anfang 20, gebildet, abenteuerlustig, keine Hippies. Sie wollten ins Finanzgeschäft einsteigen und gerieten bei der Suche nach einem passenden Objekt, aus dem was zu machen wäre, an die Business-Hippies Artie Kornfeld, "Chef von Contemporary Product bei Capitol Records", und Mike Lang, der schon das Miami Pop Festival mitorganisiert hatte. Männer, deren Vorstellung von "groovy" etwas beschränkt war, aber in der vor allem im Musikgeschäft blühenden Endphase der Hippiekultur immer irgendwas auf der Pfanne hatten. Aus der Idee, ein Tonstudio in Woodstock aufzubauen, entstand das Festival. Die Hippies waren für die Bands zuständig. Das Chaos grinste bald durchs zugekiffte Bürofenster.
Diese beiden gegensätzlichen Freundespaare stehen für alle Widersprüche, die an Woodstock zu erkennen sind (außer im Film), und sie konnten schon lange vor dem Festival nicht mehr gut miteinander. Ich gestehs: Die beiden Woodstock-Kapitalisten und ihr Anti-Woodstock-Buch sind mir sehr sympathisch (weiß schon: man soll ihnen nicht alles glauben). Sie erzählen mit Gespür für Komik, Irrsinn und die verschiedenen Kulturen, die da aufeinanderprallen, und es liest sich wie ein "Cheech & Chong"-Film von Woody Allen, der seinen Reiz aus diesem Finanzblickwinkel bezieht. Ich mag die Kapitelanfänge, etwa 15. Juli 1969: "Gelände: keins … Einnahmen aus Ticketvorverkauf: 537.123 Dollar / Gebuchte Musiker: unklar / Rechtsanwälte: 5 … einer in New York City zwecks politischer Einflussnahme … Mobile WCs: weitere 500 bestellt, insgesamt 2000 / Ausgaben: 481.519 Dollar".
Erst nach zwei Dritteln des Buchs schreit Richie Havens "Freedom!" Dass er bei seinem Auftritt so brennt, als kniete er vor dem Jüngsten Gericht, wird mit keinem Wort erwähnt. Logisch: weil die Erzähler, wie alle seriösen Organisatoren von größeren Veranstaltungen, von ihrer Show wenig mitbekommen haben, stattdessen beschäftigt waren, Hubschrauber, Geld, Spezialkram für Musiker oder Ärzte zu beschaffen. Während Mike Lang, der sich schon damals als "the man behind the legendary festival" etablierte (so auch der Untertitel seines neuen Buchs), den Reportern erzählte, dass aus Überzeugung und um des lieben Friedens willen keine Polizisten im Einsatz wären, organisierten Roberts/Rosenman sowohl uniformierte als auch New Yorker Polizisten, die dienstfrei hatten und keine Erlaubnis, in Woodstock zu arbeiten, und sie bedankten sich bei ihnen.
Als Jimi Hendrix am 18. August, Montagvormittag, auf die Bühne geht und bei nur noch 30.000 bis 40.000 Zuschauen nichts mehr schiefgehen kann, haben es die beiden so satt, dass sie zurück nach New York fahren - und deshalb muss, wer über dieses Finale alles erfahren will, zu Frank Schäfers "Woodstock 69" greifen. Da steht, was dort fehlt - und umgekehrt: Bei Schäfer ist der Zoff zwischen dem linken Politchef Abbie Hoffman und Pete Townsend auf der Bühne detailliert beschrieben samt Hintergrund; und Roberts/Rosenman erzählen detailliert, wie Hoffman Woodstock Ventures ziemlich fies erpresst hat. Dass Schäfer ein Autor ist, der nicht nur selbst Literatur schreibt, sondern auch über Popmusik und Literatur, ist der Glücksfall für diese Art Darstellung. Es ist das Woodstock-Buch, das man lesen kann, wenn man nichts mehr von der Musik hören will.
Hendrix hatte sich nicht als Vietnam-Gegner hervorgetan, als er sich als Headliner des Festivals lange nach der geplanten Zeit dem letzten müden Rest der Truppe präsentierte, schreibt Frank Schäfer. Und er hatte seine Version der Hymne schon oft gespielt, ohne dass es eine Wirkung gehabt hätte. Es war der "adäquate Schauplatz", der "Star-Spangled Banner" zur Legende machte, und Hendrix war vom Ereignis so beeindruckt, dass er ein Gedicht darüber schrieb. Was für manche nur Dreck war oder ist, hatte er anders empfunden: "Wir badeten in Gottes Freudentränen und tranken davon."
"Happy Birthday, liebes Woodstock-Festival!", textet die Bild-Zeitung 40 Jahre später, und da brauche ich dann aber was Stärkeres zu trinken als die Tränen, die mir da kommen.
Franz Dobler lebt als Schriftsteller in Augsburg. Im Oktober erscheint sein Gedichtband "Ich fühlte mich stark wie die Braut im Rosa Luxemburg T-Shirt" (Songdog Verlag)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“