Essstörung der Turnerin Kim Bui: Späte Einsichten

Kim Bui erzählt kurz nach der Turnkarriere in ihrem Buch vom Hungern, physischen und psychischen Schmerzen. Das ist gut, doch warum erst jetzt?

Kim Bui weint und streckt zugleich ihre Arme nach oben

Keine reine Freude: Kim Bui nach dem Finale der European Championsships Foto: Sven Beyrich/dpa

Während der Turn-EM zuletzt bereiste Kim Bui Vietnam, die Heimat ihrer Eltern. Dass sie, die im vergangenen Sommer ihre Karriere mit einer bronzenen EM-Teammedaille beendet hatte, die Tochter vietnamesischer Boatpeople ist, erfährt man auch in ihrem Buch „45 Sekunden. Meine Leidenschaft fürs Turnen – und warum es nicht alles im Leben ist“.

Kim Bui gibt sehr Persönliches preis. Allem voran ihre Bulimie-Erkrankung, die dazu führte, dass sie „fünf, sechs Jahre ein krasses Doppel­leben“ zwischen Training und Brechsucht führte. Es hatte mit einem Satz ihrer damaligen Trainerin begonnen: „Kim, du musst mal ein bisschen auf dein Gewicht aufpassen“, und wurde zu einem Teufelskreis. Buis Schilderungen geben Einblick in eine Sportart, in der siebenjährige Kinder ganz ernsthaft Wettkämpfe turnen.

Eine Sportart, in der allzu leicht Abhängigkeiten entstehen. Es sind Trainer:innen, die die Macht, die sie über ein ehrgeiziges Mädchen haben, nutzen, um das gemeinsame sportliche Ziel zu erreichen. Bui beschreibt, wie sie diese Abhängigkeit bis zum Schluss verspürte und wie sie stets um Anerkennung kämpfte. Training mit Schmerzen und Verletzungen, Gehorsam und immer wieder das Thema Gewicht – es ist eine persönliche Geschichte und doch auch die Geschichte von vielen anderen.

Die Parallelen zur #gym­nastAlliance-Debatte über inakzeptable Trainingsmethoden, die 2020 durch Schilderungen zweier Britinnen ausgelöst worden war, sind frappierend. Dass „45 Sekunden“ für Insider wenige Überraschungen bereithält, tut dem keinen Abbruch. Im Gegenteil: Wenn sich in dieser Sportart nachhaltig etwas verändern soll, dürfte jede einzelne dieser Geschichten wichtig sein.

Floskelhafte Ratgeberliteratur

Was die Lektüre erschwert, sind zahlreiche Passagen, die sich lesen wie ein Schulbuch für Sechstklässler und das Aufrufen beliebter Klischees – das viele Geld im Fußball oder all die Kinder, die nicht mehr auf Bäume klettern können. Stilistisch wird kaum eine Floskel ausgelassen. Vieles erinnert an Ratgeber-Literatur: „Auf jedes Tief folgt ein Hoch“.

Geschrieben hat das Buch Andreas Matlé, im Hauptberuf Pressesprecher eines hessischen Energieversorgers. Bui konstatiert, im Laufe ihrer Karriere habe sich Etliches zum Guten verändert, und klagt gleichwohl an: die jüngere Teamkollegin in Stuttgart, die vor wenigen Jahren am Agieren ihrer Trai­ne­r:in­nen zerbrochen ist, die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen in der Liga, die eigene WM mit drei Ibuprofen600 pro Tag, um den Schmerz zu ertragen.

Was fehlt, ist die Reflexion der eigenen Rolle: Hätte sie die Pillen als beinah 30-Jährige nicht verweigern können? Als Pauline Schäfer-Betz im Winter 2020 die Missstände in Chemnitz öffentlich machte, wurde das zum Auslöser des Leistung-mit-Respekt-Prozesses im Turnerbund. Sanktioniert wurde sie nicht. Sie turnt bis heute erfolgreich.

In der Turnszene stößt das Buch recht einhellig auf Ablehnung. Warum erst jetzt? Warum hat sie das intern nie thematisiert? Fragen, die sich Bui gefallen lassen muss. Sie ist 34 Jahre alt, war 14 Jahre Aktivensprecherin, in etliche Prozesse, die sie nun anprangert, selbst eingebunden. Was nach der Lektüre klar ist: Kim Bui hat in der Turnhalle nicht gelernt, die Stimme zu erheben. Sie sei dazu „vorher nicht bereit gewesen,“ sagte sie Anfang März: „Ich bin ganz glücklich, dass ich über die letzten Jahre sehr viel reflektiert habe.“ Was bleibt, ist eine individuelle Verantwortung für das eigene Handeln, wie auch für das eigene Nichthandeln.

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