: Briefe aus Sarajevo
■ Eine Berlinerin versorgt die belagerte Stadt mit Paketen
Nach Sarajevo wollte Gudrun Ziehn zum Wandern zurückkehren. Zusammen mit ihrer Freundin Aișa wollte sie in deren Berghütte in Tirnovica, in der Nähe der bosnischen Hauptstadt Urlaub machen. Die beiden Frauen hatten sich 1990 kennengelernt, als die Berlinerin einige Wochen in der Stadt war, um Material für ihre Doktorarbeit über die bosnische Agrargeschichte zu sammeln.
Das „Bosnien-Herzegowina- Archiv“, in dem die deutsche Balkanologin damals forschte, ist von zahlreichen Granaten schwer beschädigt. Die Berghütte liegt heute – sofern es sie überhaupt noch gibt – in unerreichbarer Ferne, hinter der feindlichen Linie. Die rund 50jährige Aișa ist mit Mann und Tochter in Sarajevo eingeschlossen und – wie sie selbst schreibt – „eine alte Frau geworden“. Gudrun Ziehn hat ihre Doktorarbeit auf Eis gelegt.
Seit Beginn der Belagerung Sarajevos im März vergangenen Jahres hat die 38jährige Dutzende von Päckchen in die Stadt geschickt, in der es schon lange keine funktionierende Post mehr gibt. Ihre Drei-Kilo-Standardpakete mit Mehl, Brühwürfeln, Schokolade und Kerzen wurden von Hilfsorganisationen mitgenommen. Immer legt Gudrun Ziehn einen adressierten Rückumschlag bei. Inzwischen ist sie Expertin für Transportwege durch das frühere Jugoslawien geworden. Gudrun Ziehns eigene Briefe fallen in den letzten Monaten immer knapper aus: Sie ist ratlos geworden, was sie „dorthin“ noch schreiben soll. In umgekehrter Richtung fließen die Briefe weiter. Sie sind abgestempelt in Zagreb, Split, Paris und München. Hilfsorganisationen oder bosnische Kuriere haben sie aus Sarajevo herausgebracht. Manche waren Monate unterwegs bevor sie in dem Briefkasten in Berlin-Moabit landeten. Viele kommen überhaupt nicht an.
Anfangs schrieben nur Leute, die Gudrun Ziehn persönlich kannte. Inzwischen ist das anders. Der muslimische Tašo, den Gudrun beim Grillen im Garten fotografiert hat, ist am Stadtrand von Sarajevo erschossen worden. Branko, ihr serbischer Vermieter, ist nach Prag geflohen. Die Spur der albanischen Nachbarfamilie hat sie ganz verloren. Viel Post kommt jetzt von Unbekannten. Meist sind es Leute, deren Namen und Adressen unter irgendeinem Dankesbrief aufgelistet waren – „Wenn du kannst, Gudrun, hilf auch diesen Nachbarn“ – und dann mit Päckchen bedacht wurden.
Gudrun Ziehn nutzt jede Gelegenheit, neue UnterstützerInnen zu finden. „Wir wollen, daß die Menschen überleben, daß sie nicht verhungern und daß der Krieg endlich beendet wird“, schreibt sie auf ein Flugblatt. Sie sammelt Geld bei den NachbarInnen. Beim Klassentreffen organisiert sie nebenbei eine Patenschaft. Monatelang tut sie das völlig allein. Seit ein paar Wochen arbeitet sie mit der Berliner Initiative „Keine Mauer durch Sarajevo“ zusammen.
Gudrun Ziehn ist seit Kriegsbeginn nicht mehr in Sarajevo gewesen. Doch die Atmosphäre in der Stadt kennt sie aus den Briefen. Am Anfang handelten sie noch von der Hoffnung auf ein baldiges Ende der Belagerung. Manche Schreiber, wie der Doktorand Husnija, suchten nur den intelektuellen Austausch – von Hilfssendungen wollten sie nichts wissen. In den letzten Monaten ist die Post immer verzweifelter geworden. Die Päckchen aus Berlin sind für viele die letzte Verbindung mit der Außenwelt. In seinem letzten Schreiben bat selbst der Intellektuelle Husnija um Vitamine und Präparate gegen Anämie.
Auf einem alten Stadtplan von „Sarajevo/ Jugoslawien“ und geführt von den Briefen, verfolgt Gudrun Ziehn die Zerstörung der Stadt, die einmal der Ausgangspunkt ihrer Bergtouren werden sollte. „Da“, sagt sie und fährt mit dem Finger an den rechten Rand der Karte, „das sind alte muslimische Häuser, umgeben von Bergen. Die Gassen sind so eng, daß die Leute im Schutz der Häuser gehen können. Wer da wohnt, bittet um Lebensmittel und auch um schwere Decken.“ Ihr Finger fährt zu den Neubauvierteln am entgegengesetzten Ende von Sarajevo, wo viele Vertriebene einquartiert wurden. „Hier ist niemand vor Heckenschützen sicher.“ An dieses Ende der Stadt schickt Gudrun Ziehn nur noch Medikamente und Briefe – Dinge, die so leicht sind, daß man sie notfalls auch auf der Flucht tragen kann. Dorothea Hahn
„Keine Mauer durch Sarajevo“, Informationen unter Tel. 030/ 61500552, Oranienstr. 25, 10999 Berlin
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