: Brief an einen Bürger der DDR
Lieber Freund, ich komme erst heute dazu, Ihren die dortige Stimmung schon kennzeichnenden Brief dankend zu beantworten. Es hat sich ja inzwischen Umwälzendes bei Ihnen ereignet, Revolutionäres würde ich gern sagen, doch...
Ich halte das Ganze für eine von langer Hand nach Hausmacher Art der dreißiger Jahre wie gehabt vorbereitete Inszenierung, die auch programmgemäß abgelaufen. Völker bitten um Protektion. Völker, hört die Signale, wäre die gegebene Antwort. Nur, wer sollte sie wohl geben in diesen teutschen Landen und darüber hinaus? Sie waren ja schließlich alle mal Nazis und haben nichts begriffen, nichts dazugelernt.
Es hat alles allzugut geklappt, und die wenigen Widerständler wird man auch noch schaffen, denn heute wieder - gehört uns Deutschland und morgen... Die Wiedervereinigung, sie ist doch bestens vorbereitet. Und die Mauer? Nun, wer spricht noch von der Mauer. Das ganze Deutschland muß es sein. Und Polen ist nicht weit. Die Schlesier dürfen ihre Unverschämtheiten lautstark hinausposaunen, die sogenannten Republikaner sind - was der Name doch ausmacht - schon stubenrein, und, wie gehabt, die Wirtschaft hat alles wieder meisterhaft im Griff. Auf ein neues. Man ist besser gerüstet als je zuvor. Das Bollwerk gegen den Bolschewismus, es hat das in ihn gesetzte Vertrauen nicht enttäuscht. Gorbi, ich möchte meinen Glauben an ihn nicht verlieren, ist er nolens volens Handlanger der Amis, ein anderer Walesa?
Natürlich, wer aus seinem Staat eine Kleinkinderbewahranstalt gemacht, der sollte sich nicht wundern, denn das war ja nicht im Sinne der Herren Marx, Engels, Bebel, Lenin und Trotzki, daß man ihre Ideen verspießbürgerlicht ad absurdum geführt. Der Freiheitsdrang sei groß, hört man immer wieder. Nur, ist es nicht ein Kuriosum, daß unter den Nazis niemand danach gedürstet? Ja, der Schoß war fruchtbar noch, aus dem das kroch, wie Brecht vorausgesagt. Und das Denken, wenn man es überhaupt so nennen will, ist dasselbe geblieben. Dasselbe, nicht das gleiche. Und auch die „Alleinseligmachende“, sie rührt im Trüben mit, denn „wer glaubt, denkt weiter“, wie ich einmal las, die Verdummungsmaschinerie in Gang zu halten.
Sie glauben noch an die Zukunft. Ich aber, ich bin wesentlich älter, glaube mehr an die Vergangenheit. Sonst wüßte ich nichts Neues. Aber das hier, das ist ja mehr als genug. Oder?
Alles Gute und seien Sie freundlichst gegrüßt
Ihr G.B.
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