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Archiv-Artikel

Bremen auf der Suche nach seiner Seele

Auf einer Tagung der Heinrich-Böll-Stiftung hat der Berliner Sozialwissenschaftler Albrecht Göschel vom Deutschen Institut für Urbanistik einen Vortrag über Bremens Seele gehalten. Wir dokumentieren hier Auszüge. In der kommenden Woche wird ein Reader über die Tagung „Hinter dem Horizont geht es weiter – aber wohin?“ vorgestellt, auf der es vor allem um die finanzpolitischen Perspektiven Bremens ging

Bremen - Stadt des sozialdemokratischen Konsenses

In Zeiten rapiden Wandels, und wir begreifen unsere Gegenwart als eine solche, gehören Identitätsunsicherheiten und Identitätskrisen und ihre Kompensation in einer häufig verzweifelten Suche nach Authentizität zur Normalität, und fast alle deutschen Städte scheinen von dieser Krise erfasst zu sein, schenkt man den Bemühungen glauben, die sich landauf, landab auf Identitätspolitik, auf den Entwurf von Zukunftsbildern, von Bildern der eigenen, spezifischen, eben authentischen Zukunft in der deutschen Stadtpolitik feststellen lassen.

Es mag fraglich sein, ob Städte eine Seele haben, aber dass sie meist von einer Atmosphäre, einem Flair, einem spezifischen lokalen Ton durchzogen sind, darüber sind wir uns alle ziemlich sicher, auch wenn sich häufig schwer greifen lässt, worin dies Besondere denn eigentlich liegt. Es kann ein lokales Idiom sein – „wir können alles, nur kein Hochdeutsch“ –, ein bestimmte Bebauung, eine geographische Landschaftsformation – die Lage an einem Fluss oder Gebirge –, eine Tradition des Essens und Trinkens bis zu bestimmten Lokal- oder Nationalgerichten, meist aber wohl alles zusammen, was dieses Lokalkolorit ausmacht. Für Deutschland wissen wir, dass vor allem wirtschaftliche Bedingungen, als die regionale oder lokale Art von Industrie, Handel, Verkehr und Landwirtschaft einerseits, zum anderen religiöse Traditionen solche regionalen oder lokalen Identitäten oder Kulturen prägen und geprägt haben, die umfassend als Identität oder, wie eben im Programm zu dieser Tagung, als Seele bezeichnet werden.

In einem umfassenden, sich offensichtlich beschleunigenden, tiefgreifenden Wandel werden solche Prägungen nicht nur in Frage gestellt, sie werden vor allem erst einmal überhaupt bewusst. Identitätskrisen, wie sie offensichtlich die Stadt Bremen seit einigen Jahren durchmacht, sind also erst einmal nichts anderes, als modernitätstypische Vorgänge der Selbstvergewisserung. Insofern ist eine Identitätskrise immer ein positives Merkmal, spricht sie doch für Reflexionsbereitschaft und darüber für Anpassungsbereitschaft an sich verändernde Bedingungen.

Bremen ist es merkwürdiger Weise bisher nicht gelungen, sich in dieser Weise zu platzieren, wobei natürlich zu beachten ist, dass symbolische Politik der Namensgebungen oder Werbeslogans nicht unbedingt Erfolg garantiert. Die Frage ist also, was sind die Normen, Werte, Überzeugungen, die in dieser Stadt so selbstverständlich, so tief historisch gesichert und fixiert sind, dass bereits ihre Erwähnung Unsicherheiten und Ängste auslösen könnte, dass die Aufforderung, hier möglicherweise Korrekturen oder Anpassungen vorzunehmen, panisches Entsetzen und tiefste Abwehr hervorrufen.

Deutschland insgesamt, besonders aber die deutschen Städte und Kommunen, und hier wieder geradezu exemplarisch die Stadt Bremen sind sei Jahrzehnten, mit Unterbrechung durch den Nationalsozialismus, an eine soziale Utopie gebunden, die in jüngster Zeit von Ralf Dahrendorf als „sozialdemokratischer Konsens“ bezeichnet wurde. Drei Elemente, drei Normen, Überzeugungen und Übereinkünfte bestimmen diesen Konsens. Als erstes gilt Gleichheit oder soziale Gerechtigkeit als oberstes politisches Gebot. Ihr hat Politik vorrangig zu dienen. Als zweites sollen alle politischen Institutionen souverän handeln können, also ihre Souveränität, die sie durch repräsentative Wahl erhalten, auch einsetzen und nutzen. Allerdings soll diese Macht der politischen Institutionen auf breiter Zustimmung der Bevölkerung basieren, sich also nach Möglichkeit nicht nur auf einen formalen Wahlakt, sondern auf permanente öffentliche Debatte und Legitimation stützen. Und drittens sollen die politischen Institutionen ihre Macht im Wesentlichen für eine fördernde aber auch fordernde Politik gegenüber der Wirtschaft einsetzen können. Allerdings soll auch diese Wirtschaftpolitik sich nicht als schiere Machtausübung darstellen, sondern konsensorientiert und korporatistisch abgestützt sein. Die Wirtschaft soll also in den normativen Konsens von Gleichheit und politischer Souveränität der legitimierten Politik einbezogen sein.

Es ist nun leicht zu erkennen, dass in kaum einer anderen Stadt Deutschlands dieser Konsens eine so hohe Verbindlichkeit erreicht hat wie gerade in Bremen. Die ganze Stadt kann gleichsam als stein- und institutiongewordene Manifestation dieses Konsenses gelten. Eine beliebige und beliebig verlängerbare Liste von Beispielen kann diese Behauptung leicht erhärten. Bereits um 1930 setzt Bremen eine Schulreform durch, die mit Nachdruck bis in die vorschulische Erziehung das Prinzip der Chancengleichheit zu realisieren sucht. Das Bremer Programm „Kunst im öffentlichen Raum“, mit dem Bremen seit Beginn der 1970er Jahre die ganze Stadt mit einem „Flächenbrand“ an Kunstwerken überzieht, ist nachgerade ein Dokument genuin sozialdemokratischer, gleichheitsorientierter „Kultur für alle“. Einrichtungen der Quartiers- oder Stadtteilkultur, Stadtteilkulturhäuser, weisen in die gleiche Richtung. Das Bremer Zentrum für berufliche Bildung aus den 1960er Jahren gehört ohne jeden Zweifel zu den architektonisch herausragenden Gebäuden jener Zeit, nicht nur in Bremen, auch hier ein Symbol, wie wichtig einem dieser Bildungszweig war, der sich offensichtlich nicht an Eliten wendet.

Im Städtebau wird die gleiche Norm erkennbar und dies fast noch tragender mit noch größerer historischer Tiefe. Im Dreiklang von Weserrenaissance (Rathaus, Rathausmarkt, Schücking), Klassizismus (Theatergebäude Goetheplatz / Ostertor) und Bremer Haus als bestimmender Wohnform werden materiell und symbolisch Bauformen relevant, denen alle Aufklärungs- und Gleichheitsprinzipien zu Grunde liegen. Selbst die großen Villen der Bremer Kaufleute und Reeder an der Schwachhauser Heerstraße bedienen sich als Architekturform des aufklärerischen, bürgerlichen Klassizismus und vermeiden jeden Historismus mit den dann möglichen Assoziationen an feudale Architektur. In den 1960er Jahren sind es Meisterleistungen einer internationalen Architektenavantgarde, die in Bremen entstehen – im sozialen Wohnungsbau der Vahr.

Und wenn es noch einer neuesten symbolischen Leistung bedarf, um das Prinzip, das hier waltet, deutlich zu machen, ein Beispiel das zu treffend, zu schön ist, um es selbst bei bestem Willen zu erfinden, das nur die Bremer Realität hervorbringen kann, dann ist es der Beitrag des Oberbürgermeisters Henning Scherf zur Festpublikation des Deutschen Städtetages zu dessen 100jährigem Jubiläum. Eine lange Reihe namhafter Kommunalpolitiker und Bürgermeister beteiligt sich an dieser Veröffentlichung. Sie alle schreiben über die aktuellen, harten Probleme der Kommunalpolitik, über Kommunalfinanzen, Planungsrecht, Stellung der Kommune im vereinten Europa etc. Auch Henning Scherf hätten solche Themen offen gestanden, z.B. die Folgen der Globalisierung für Welthandel und Schiffbau, ein durchaus bremenrelevantes Thema. Nichts dergleichen kommt vor, stattdessen „Frauen in der Stadt“, und dies natürlich mit einem hoch emotionalen Plädoyer für Gleichheit und Gerechtigkeit in der modernen Stadt. Das ist Bremen, das ist seine Seele! Bis heute!

Von einer solchen Tradition kann man sich nicht einfach verabschieden. Das Problem aber, vor dem Bremen als Stadt, Bundesland, als Gemeinwesen nun steht, scheint zu sein, dass dieser „sozialdemokratische Konsens“, der unabhängig von dieser modernen Formulierung seine Seele, seine Identität ausmacht, gegenwärtig sowohl an Realisierbarkeit wie auch an Überzeugungskraft verliert. Nirgendwo sonst als in Bremen wird in Deutschland so spürbar, dass der sozialdemokratische Konsens, von dem hier immer die Rede ist, keine Erfindung der letzten Jahre oder Jahrzehnte darstellt, sondern dass er die Erfüllung einer modernen Utopie bedeutet, die vor allem die europäischen Staaten der französischen Revolution in ihrer Politik bestimmt. Eine zweihundertjährige Tradition, die politische Hoffnungen und Utopien hervorgebracht und getragen hat, scheint in eine Krise zu geraten, und das muss eine Stadt oder ein Gemeinwesen, das in allen Äußerungen, in seiner ganzen Geschichte dieser Tradition verpflichtet ist, ins Mark treffen.

Was es vielleicht bedeuten könnte, sich von diesem Konsens zu trennen, kann man sich mit Blick auf andere Städte verdeutlichen. Ohne jeden Zweifel gehört Bremen über große Bereiche zu den schönsten deutschen Städten, und bei Vergleichen nach Familien- oder Kinderfreundlichkeit rangiert die Bremer Neustadt regelmäßig auf einem Spitzenplatz. Herausragende, theatralische, spektakuläre Höhepunkte aber fehlen vollständig und würden auch nicht passen; oder können wir uns eine Weserphilharmonie in der Wucht der Sidney-Oper oder des Guggenheimmuseum Bilbao vorstellen, neben der wiederum sehr zurückhaltenden Teerhofbebauung? Wohl kaum. Das wäre kein guter bremischer Stil. Wenn etwas Besonderes gelingt, dann ist es wieder eine Bildungseinrichtung wie das neue Universum an der Universität, also weit ab „vom Schuss“, und architektonisch zwar beeindruckend, aber nicht absolut überwältigend. Versucht die Stadt dagegen, sich an modernes Entertainment anzuhängen wie im Space-Park, misslingt das Objekt. So etwas scheint eben in die Bremer Atmosphäre nicht zu passen, wobei hier nicht gefragt werden soll, ob es in anderer Form, also z.B. in größerem Volumen gelungen wäre. Es ist nicht gelungen. Diese Haltung durchzieht Bremen.

Was aber ist mit der Weser in Bremen? Am gesamten Flussverlauf durch die Stadt nicht ein wirklich spektakuläres Highlight. Stattdessen kämpfen Umweltaktivisten für eine noch weiter gehende Renaturierung der Flussufer, obwohl diese heute schon vergleichsweise „natürlich“ wirken. Auf den Wiesen an der Weser hat es mal das Kulturfest „Weserlust“ gegeben, in seiner Anlage, in seinem Namen sehr typisch für die Bremer Mentalität. Dann schickten sich einige Künstler an, das zu verändern, an Großes anzubinden, und sie erfanden den Namen „Breminale“ für eben dieses Fest. Damit war es zum Untergang verurteilt, denn jetzt wurde nicht etwa etwas Großes, Herausragendes in Angriff genommen. Im Gegenteil signalisierte bereits der Name mit der klaren Assoziation zur „Berlinale“, dass es sich um eine Kopie, als um etwas „Zweitklassiges“ handeln würde, das dann auch bald von der Bildfläche verschwant. Das überregionale, breit wahrgenommene Ereignis will nicht zustande kommen, eine „Weserlust“, ein Trommelfest mit Laien - für alle - an der Weser, das mag gelingen. Und da, wo das Herausragende stattfindet, wie beim jährlichen Musikfest, scheint es überregional nicht wahrgenommen zu werden. Zwar sind in den letzten Jahren Veränderungen vorgenommen worden, aber bis dahin dominierte auch hier der Bildungsanspruch, z. B. durch die großen Anteile zeitgenössischer Musik, die mit dem Willen, auch diese der Breite der Bevölkerung nahe zu bringen, mit beträchtlicher öffentlicher Förderung unterstützt werden musste. Die Salzburger Osterfestspiele können sich inzwischen über den Markt, ohne jede öffentliche Förderung tragen, bei Eintrittspreisen bis zu 350.- EUR für eine Karte, aber da dirigiert dann eben Simon Rattle die Berliner Philharmoniker und ein oder zwei Gesangstars - mit Mozart; und so was geht immer, auch wenn man Salzburg nicht nach Bremen transportieren sollte oder kann.

Es scheint der Stadt Bremen also ausgesprochen schwer zu fallen, sich von dem sozialdemokratischen Konsens zu lösen, eine „Schwerfälligkeit“, die ohne jeden Zweifel sehr viel zu der eminenten Lebensqualität dieser Stadt beiträgt. Aber es ist eine Lebensqualität des Alltags, der Normalität. In der Perfektionierung dieser Normalität des Alltags ist Bremen herausragende Spitze, genau das aber wird nicht als „Spitze“ gewürdigt. In der Städtekonkurrenz scheint man damit nicht punkten zu können. Zu selbstverständlich scheint diese Alltagsqualität zu sein, obwohl sie das in keiner Weise ist, wenn man andere Städte, z. B. Frankfurt/M. oder München als Vergleiche heranzieht, aber die haben dann ihre Events und Highlights auf die man mit Lokalstolz blickt, und sei es die Frankfurter Skyline, von der doch jeder weiß, dass sie ökologisch und kleinklimatisch eine Katastrophe für die Stadt darstellt.

Und dennoch nagt ein Verdacht in den Bremern, vor allem aber in den von Sympathie für diese Stadt getragenen Fremden und Gästen. Könnte es sein, dass die Normen, an die man sich so sehr gebunden fühlt, längst zu Mythen geworden sind, die zwar als Glaubenssätze, weit weniger aber als materielle Alltagsrealität Bedeutung haben? Ist die Spanne der Ungleichheit in Bremen zwischen Schwachhausen und Gröpelingen nicht genau so groß wie in München zwischen Bogenhausen und Sendling? Weist Bremen nicht neben der überdurchschnittlichen Zahl an Langzeitarbeitslosen auch einen deutlich überdurchschnittlichen Anteil an Millionären auf? Ist also die fundamentale Norm der Gleichheit in Bremen wirklich weniger verletzt als anderswo? Wohl kaum.

Das gleiche gilt für die politische Souveränität der Institution „Stadtstaat Bremen“. Der größte örtliche Arbeitgeber, gemessen an der Zahl der Arbeitsplätze, ist vermutlich Daimler-Chrysler. Dass er sich z. B. mäzenatisch für Bremer Angelegenheiten besonders eingesetzt habe, ist nicht bekannt. Und vor Arbeitsplatzabbau, der gerade den Bremer Standort besonders treffen wird, schreckt der Konzern gleichfalls nicht zurück. Die großen Unternehmen, überwiegend so genannten Global Player, können sich nur gegenüber ihren Aktionären, nicht mehr gegenüber einem einzelnen Standort verpflichtet fühlen, und dieser hätte auch keine Möglichkeit, diese Verpflichtungen, in welcher Form auch immer zu erzwingen. Äußerstenfalls auf einen Mittelstand könnte noch ein gewisser Druck ausgeübt werden, aber dem geht entweder bereits jetzt nicht besonders gut, oder er könnte gleichfalls auf Mobilitätsgedanken gebracht werden, und sein es eben nur knapp über „Stadtstaatsgrenzen“.

Die einstmals so vorbildlichen Kultureinrichtungen, alles bürgerschaftliche Stiftungen, leben in Bremen wie auch sonst überall von öffentlichen Zuwendungen, auch wenn sie sich „Kunstverein“ nennen. Das Bremer Bürgertum, das sie nutzt, ist sich entweder gar nicht darüber im klaren, wie viel Subventionen jeder Einzelne allein beim Kauf einer Theaterkarte einstreicht - in der Regel das fünf- bis zehnfache dessen, was er oder sie als Besucher gezahlt hat - oder es nimmt diese Förderung, die einer Umverteilung von unten nach oben entspricht, nicht etwa dankend, sondern als Selbstverständlichkeit hin.

Wenn Bremen wirklich eine Stadt „bürgerschaftlicher Kultur“ ist, wo bleibt dann die große bürgerschaftliche Theaterstiftung, die den gesamten Subventionsbedarf eines solchen Hauses in privates Engagement verlagert? Ein Rechenexempel: Zuwendungen von 10.000 EUR pro Jahr an das Theater dürften einen wohlhabenden Bremer Bürger nicht allzu sehr schmerzen, und dass es 2.000 solche Bürger in Bremen gibt, die auf diese Weise 20 Mill. EUR aufbrächten, hinreichend für einen Theateretat, kann man kaum bezweifeln. Wenn solche Aktionen durch moderne Selbsthilfeprojekte ergänzt werden, die vielleicht etwas öffentliche Unterstützung aber wenig Geld brauchen, könnten sich auch in Bremen durchaus Perspektiven aus der gegenwärtigen Krise ergeben.

Damit werden Problem und Zukunft der Stadt Bremen gleichermaßen deutlich. Das Gemeinwesen Bremen sieht sich an Normen gebunden, die in historischen Tiefenschichten dieser Stadt verwurzelt sind und in wahrstem Sinne des Wortes seine „Seele“ prägen, wenn es denn etwas Derartiges für Städte überhaupt gibt. Faktisch aber haben diese Normen in hohem Maße mythische Qualität angenommen, d.h. sie wirken nicht als Realitäten, die konkretes Verhalten nachhaltig beeinflussen. Damit ergeben sich zwei Perspektiven: Entweder der Abschied von den Mythen oder deren neuerliche Erfüllung mit alltagstauglichem, alltagsrelevantem Leben. Es scheint, Bremen könnte doch noch eine Wahl haben, die aber große Entschlossenheit und Kraft verlangt.